|
|
Das Tier im Walde
Зверь в лесу |
|
|
|
|
|
I.
Ich, Ambrosius Kettenmeier, schreibe in
meinem vierundsiebzigsten Lebensjahre dies, mein seltsamstes Erlebnis
nieder. Ich schreibe es im Sommer des Jahres 1886, genau fünfzig Jahre
nach seinem Geschehen und ich muß es tun, weil niemand auf meine Reden
hören will. Denn meine Kinder meinen mit einem Lächeln, all dies wäre das
törichte Gefasel eines Greises und sie haben mir verboten, ihren Kindern
davon zu erzählen, auf daß ich ihnen ja nicht dergleichen Köhlerglauben in
den Kopf setze. Sie ist freilich arg gescheit geworden, ihre Zeit: man
setzt sich in das wohlgepolsterte Kämmerlein eines eisernen Häuschens, das
durch Dampfkraft getrieben wird, und am nächsten Morgen wacht man einem
fremden Lande auf und hat gar nichts von der Reise gemerkt. Man drückt an
einem Ende der Welt auf einen Taster und am andern entstehen lauter Punkte
und Striche, aus denen genau zu ersehen ist, was der erste gemeint hat.
Sie haben viel gewonnen in dieser Zeit, das ist wahr, aber sie wissen
nicht, was sie verloren haben. Sie haben es verlernt, die geheimnisvollen
Stimmen der Natur zu verstehen, sie kennen die guten und bösen Gewalten
nicht mehr, die dort ihr Spiel treiben. Sie werden alle reich in unsern
Tagen und wissen nicht, wie arm sie geworden sind. Doch das sind, wie
meine Kinder sagen würden, törichte Gedanken eines alten Mannes, der in
diese Welt nicht mehr hineinpaßt. Ich schreibe dies des Abends beim Schein
einer kleinen Öllampe. Es ist schwül in dem Dachkämmerchen, das sie dem
Alten eingeräumt haben. Von unten höre ich gedämpft das Klavierspiel
meiner Enkelin, ihre Finger sausen stürmisch von einem Ende der Klaviatur
zum andern. Ich kann keine rechte Musik heraushören, aber man sagt mir,
sie spiele virtuos und das Stück wäre eine glänzende Paraphrase von Liszt.
In meiner Jugend spielten wir Mozart; mir klang das anders. Aber ich muß
mich beeilen. Meine Augen sind schwach, meine Finger zitterig. Wer weiß,
ob ich mit meiner Arbeit zu Ende komme.
Ich bin ein Försterssohn. Meine erste
Kindheit habe ich in Wäldern verbracht, die mir wunderbar schienen, die
voll von schönen und unheimlichen Märchen waren, welche sich die wenigen
Menschen, die ich kannte, mit leiser Stimme erzählten. Ich war noch sehr
klein, als mein Vater starb. Er wurde eines Nachts tot aus dem Walde nach
Hause gebracht, und es scheint, der Schlag habe ihn gerührt. Ich habe mich
freilich später zuweilen gefragt, ob denn ein kräftiger Mann so ohne
weiteres umsinken könne und tot sein, oder ob nicht dunklere Mächte ihre
Hand dabei im Spiel gehabt haben. Doch das gehört nicht
hierher.
Der unverheiratete ältere Bruder, ein
angesehener Baumeister aus Wien, holte uns nun zu sich in die Stadt. Meine
Mutter, selbst ein Stadtkind, das nie gern auf dem Lande gelebt hatte,
fand sich, nachdem der erste Schmerz vorüber war, rasch genug in ihr
Leben, das von Haushalt und Familienbeziehungen ausgefüllt war. Mir ward
das Dasein wesentlich schwerer. Eine unbändige Sehnsucht nach dem Rauschen
der Bäume trieb mich hinaus, wenigstens auf das Glacis, wo ich etwas
Grünes sehen konnte, wiewohl diese wohlgehaltenen Anlagen weltenweit von
der geliebten Wildnis verschieden waren. Des Sonntags unternahm ich
zuweilen eine Wanderung in die Umgegend, die damals noch nicht durch ein
Eisenbahnnetz mit der Stadt verbunden war, allein ich kam nie weit genug,
um es ganz still, wild und einsam genug haben zu können.
Die Sehnsucht nach der geheimnisvollen Welt
meiner Kinderjahre beherrschte meine ganze Jugend. Indessen ging ich
fleißig zur Schule und da ich recht geschickt im Zeichnen war, meinte mein
Onkel, ich möchte Maler werden, was sich zu seinem eigenen Baumeisterberuf
wohl schicken und mir zu mancherlei Aufträgen verhelfen könnte, da das
Ausschmücken der Häuser mit Fresken recht beliebt zu werden begann. Ich
kam also auf die Akademie, in die Schule Meister Rahls, aber obwohl ich
ganz leidlich mitkam, fühlte ich bald, daß die großen Kartons und Bilder,
die wir da entwerfen lernten, meine Sache nicht seien. Es zog mich zum
Kleinen, zum Kleinsten in der Malerei, ich malte auf talergroßen
Elfenbein- und Metallplättchen, die ich von meinem Ersparten erwarb, ich
malte immer nur Heilige, am liebsten aber die Mutter Gottes, und ich
bemühte mich, sie so zart, so liebevoll, so fein zu bilden, daß es auch im
allerkleinsten an nichts fehle. Meine Kameraden verlachten mich ob dieser
Kunst, die nur mit der Lupe zu würdigen sei, mein Oheim schalt über die
Spielerei, aber er beruhigte sich, als er eines Tages solch ein
Elfenbeinplättchen zufällig einem vornehmen Herrn gezeigt hatte und dieser
es nicht nur sofort erwarb, sondern mir noch einige neue Aufträge gab.
Ohne daß ich recht wußte, wie es kam, folgte nun eine Bestellung auf die
andere. Ich malte auch Porträts, wobei ich mich bemühte, die Gesichter
immer ein wenig hübscher und vollkommener zu machen, als die Natur sie
gebildet, am häufigsten aber malte ich die allerheiligste Mutter Gottes im
blauen Schleier mit der Sternenkrone und es wurde unter den vornehmen und
frommen Damen der damaligen Zeit eine förmliche Mode, solch ein Bildchen
von mir, mit Edelsteinen umsäumt, auf der Brust zu tragen. So kam es, daß
ich bald von der Unterstützung meines Oheims unabhängig wurde, der als
ziemlich geiziger Mann solches wohltätig empfand. Aber auch ich war
geizig. Denn alles Geld, das ich nicht zum Lebensunterhalt brauchte oder
meiner Mutter gab, sparte ich in einem alten Strumpf sorgsam zusammen, mir
endlich jene Reise in Wälder und Berge gönnen zu können, von der ich seit
meiner Kindheit träumte. Als ich mein vierundzwanzigstes Jahr erreicht
hatte, war mir der Strumpf endlich schwer genug. Ich fand auch einen
Reisegefährten in einem jungen Gehilfen meines Onkels, einem muntern
Burschen, den es gleichfalls aus der Stadt hinaustrieb. Wir wollten in
jene Gegend, die man das Salzkammergut nennt, die überreich ist an Bergen,
Seen und Wäldern und in der damals noch nicht wie heute ein wohlgepflegter
Kurort neben dem andern lag, sondern wo noch Stille, Wildnis und
Einsamkeit zu finden war. Allerhand Umstände verzögerten jedoch unsere
Reise und es ging schon auf den Spätsommer, als wir aufbrachen. Meine
Mutter war sehr ängstlich, denn in jenem Sommer waren viele Nachrichten
über kühne Bergsteiger gekommen, die gerade in jenen Gegenden verunglückt
waren, ich beruhigte sie jedoch, daß wir keinerlei sonderliche Kühnheiten,
sondern nur mäßige Wanderungen zu unternehmen gedächten, und so ließ sie
uns endlich ziehen. Wir fuhren mit der Post bis Linz und wanderten von da
landeinwärts bis zu einem freundlichen Städtchen an einem blauen See, wo
wir einen Tag rasten und den berühmten Schnitzaltar der Kirche besichtigen
wollten, worauf dann die eigentlichen Höhenwanderungen beginnen
sollten.
Der dicke und geschwätzige Wirt unseres
Gasthofes riet uns jedoch sehr von unserem Vorhaben ab. In der Tat seien
in diesem Sommer die Bergwanderer von einem merkwürdigen Verhängnis
verfolgt, und nicht nur sie, nein, auch Landeskinder, die Weg und Steg
wohl kannten, hätte man tot aufgefunden, alle rücklings abgestürzt, mit
gebrochenem Genick und völlig ausgeblutet. Es sei dies wohl auf die
besondere Unbeständigkeit des Wetters zurückzuführen, das an scheinbar
schön beginnenden Tagen oft Schneestürme und namentlich schwere und
gefährliche Nebel sende, die keinen Blick vor- oder rückwärts zuließen.
Wir seien unerfahrene Stadtherren und er rate uns, unsere Erholungszeit
hier in seinem sicheren Gasthofe zuzubringen, wo er bestens für uns sorgen
wolle, und wo der Blick auf See und Berg sowie kleine Spaziergänge uns
bekömmlicher sein würden als wagehalsige
Unternehmungen.
Mich dünkte es, als ob der Wirt im
Interesse seiner augenblicklich schon recht leeren Herberge spräche, aber
auf meinen Gefährten schienen seine Worte Eindruck zu machen, und am Abend
geschah etwas, was ihn noch mehr zum Hierbleiben bestimmte: es war nämlich
eben Bürgermeisterwahl gewesen, und die Honoratioren des Städtchens
vereinigten sich im Wirtshause zu einem Festessen mit Tanz, an dem auch
wir beiden Städter uns eifrig beteiligten. Hier fiel mir ein besonders
hübsches Mädchen, die Tochter des Kaufmannes auf, der mein Freund sehr zum
Ärger der ortsansässigen Burschen nicht von der Seite wich und von der er
eifrig bestrebt war, mich fernzuhalten. Als ich am nächsten Morgen mein
Ränzel schnürte und ihn aufforderte, ein gleiches zu tun, erklärte er mit
allen Zeichen der Verlegenheit, daß er gern noch geblieben wäre; er spüre
die Wanderung der letzten Tage noch in allen Gliedern und die Worte des
Wirtes schienen ihm vernünftig. Ich begriff sofort, daß er sein Abenteuer
mit der Schönen noch nicht abzubrechen wünsche und erklärte, die Wanderung
allein fortsetzen zu wollen, wovon er mir nur schwach abriet, denn es war
ihm offenbar darum zu tun, sich einen möglichen Rivalen vom Halse zu
schaffen. Auch mir war es nicht unlieb, meine Reise allein zu machen, denn
schon die wenigen Tage mit dem immer gesprächigen Gefährten hatten mir
gezeigt, daß in seiner Gegenwart an eine beschauliche und verträumt
schweigsame Wanderung, wie ich sie erhofft hatte, nicht zu denken war. So
verabredeten wir, uns erst in Salzburg, dem Schlußpunkt unserer Reise an
einem bestimmten Tage wieder zu treffen, dann zog ich bei herrlichstem
Wetter fürbaß, die Warnung des Wirtes verlachend, das gerade von solchen
morgenwarmen Tagen Tücken verhieß.
Mein Weg war mir auf der Karte sauber und
genau vorgezeichnet. Ich sollte erst die Waldstraße nehmen, dann auf einen
Fußpfad abbiegen und endlich, diesen verlassend, indem ich mich immer
bergauf hielt, am Nachmittag aus dem Hochwald ins Krummholz gelangen, bis
ich schließlich auf eine Hochwiese kommen mußte, wo ich in einer Sennhütte
nächtigen konnte. Am nächsten Morgen würde ich dann den Gipfel eines
Berges besteigen, der eine märchenhafte Aussicht über die Gebirgsketten
und Seen ringsum verhieß und so nach und nach ohne Anstrengung, mit genau
vorgesehenen Nachtlagern und Ruhepausen das ganze herrliche Gebiet
durchstreifen. Schon lagen die Häuser und Felder hinter mir, ich hatte das
Seeufer verlassen und die wunderbare Welt des Waldes umfing mich mit ihrem
vollen Zauber; hier schien es mir noch harziger, noch duftender, noch
einsamer als in der Heimat meiner Kinderjahre. Erst traf ich ein paar
Holzfäller, dann wurde es ganz still. Ich war ein paar Stunden glücklich,
wie ich es nie vorher noch nachher im Leben gewesen
bin.
Als es jedoch auf den Nachmittag zuging,
konnte ich mir nicht verhehlen, daß ich nicht mehr so rüstig ausschritt,
wie zu Beginn. Es war schwül geworden, der Himmel hatte sich grau umzogen
und allmählich fühlte ich mich von einem feuchten Nebel umrieselt, der den
Worten des Wirtes recht zu geben schien. Dies war unerfreulich, aber
Wetterlaunen dürfen den Wanderer nicht schrecken. Noch war es nicht
dunkel, aber eigentümlich grau und lustlos, und ich sagte mir nicht ohne
Bedenken, daß ich nun nachgerade schon ins Kurzholz hätte kommen müssen.
Noch aber dehnten sich hohe Stämme in unabsehbaren gotischen Bogen, der
Regen rieselte dichter, die Schwüle hatte nasser Kälte Platz gemacht, und
ich mußte mir endlich gestehen, daß ich mich, obwohl ich mich genau an
meine Richtung zu halten geglaubt hatte, vergangen haben
mußte.
Meine Kleider hingen feucht und schwer an
mir, ich war müde und es deuchte mir, als sollte ich mich mit dem Gedanken
vertraut machen, die langsam einbrechende Nacht im Walde zu verbringen.
Ich sah mich nach einem Unterschlupf um und fand endlich einen etwas
überhängenden moosigen Felsen, der freilich nur ein unvollkommenes Obdach
bot.
Indessen hatte ich das Bedürfnis, ein wenig
zu ruhen. Ich versuchte, mich an den Resten meines Proviants zu erlaben,
der naß und unschmackhaft geworden war, dann starrte ich in den
Regenschleier vor mir, der immer dichter wurde und empfand zwar keine
Furcht, aber Ödigkeit und Langeweile. Vor mir lagen ein paar dürre
Tannenzweiglein. Ich nahm sie auf, knickte und verflocht sie zu allerhand
geometrischen Figuren und versuchte, mich auf diese Art zu zerstreuen.
Dabei kam ich ganz zufällig auf die Figur des Drudenfußes und dabei fiel
mir die Erzählung eines alten Weibes aus meiner Kindheit ein, daß diese
Figur vor den bösen Geistern des Waldes schütze. Lächelnd hängte ich die
fest verflochtenen Zweiglein an den Rockknopf auf meiner linken Brust. Da
geschah etwas höchst Seltsames: In dem Augenblick, in dem die Figur meine
Herzgegend berührt hatte, ging ein Blitzstrahl blitzend und jäh vor mir in
die Erde nieder. Ich hätte, trotzdem dieser Landregen keinerlei
Gewittercharakter trug, an einen Blitz glauben müssen, wenn sich ein
Donnerschlag hätte vernehmen lassen, was bei der Nähe des Geschehens
unmittelbar darauf hätte erfolgen müssen. Allein, es erfolgte keiner,
dafür hörte ich ein eigentümliches Knacken in den Ästen des Gebüsches und
sah ein sehr großes Tier herausbrechen und in hastigem Lauf davonjagen.
Die Schnelle des Geschehens, Dämmerung und Nebel hinderten mich, seine
Form genau zu erfassen, aber soviel glaubte ich an seinen schwerfälligen
Sprüngen zu erkennen, daß dies kein leichtfüßiges harmloses Rotwild war.
Zugleich fiel es mir aufs Herz, daß ich von dem Vorkommen wilder Tiere in
jenen Wäldern gelesen hatte, die sich freilich höchst selten und nur im
Winter zeigten. Wie dem auch sein mochte, ich fühlte plötzlich, daß dieser
Fels keinen Schutz für einen nur mit seinem Jagdmesser bewaffneten
Wanderer bot und beschloß weiter zu wandern. Ich hatte früher auf meinem
Wege leerstehende Holzhütten gesehen, es mochte sein, daß mir der Zufall
noch eine in den Weg führte. Ich hatte Glück; nach kaum halbstündiger
Wanderung gewahrte ich ein Licht und beim Näherkommen sah ich, daß es in
einem ganz stattlichen Häuschen brannte, das allem Anschein nach ein
Forsthaus sein mußte. Dies war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich
pochte an das Tor, da hörte ich von drinnen den erschreckten Aufschrei
mehrerer Frauenstimmen und zugleich vernahm ich schwere Tritte, die sich
der Tür näherten, aber nicht um sie zu öffnen, sondern, wie ich deutlich
hörte, um einen eisernen Riegel vorzuschieben. Dies erschien mir wenig
gastlich und ich ärgerte mich über die törichte Ängstlichkeit dieser
Waldbewohner. Ich klopfte also nochmals, indem ich zugleich meine Stimme
erhob und mich als einen völlig harmlosen, vom Regen überraschten Wanderer
zu erkennen gab, der um ein Nachtlager bitte. Nun hörte ich drinnen eine
kurze Beratung, dann näherten sich wieder schwere Tritte der Tür, der
Riegel wurde zurückgeschoben und durch den Spalt lugte der graubärtige
Kopf eines Mannes. Ich wiederholte mein Anliegen, der Spalt wurde breiter,
wobei ich an der Kleidung des Mannes den Förster erkennen konnte, und er
musterte mich schweigend mit scharfen Augen von oben bis
unten.
«Treten Sie ein», sagte er endlich, «aber
das da» — er wies auf den Drudenfuß aus Tannenzweigen, der noch immer an
meinem Rockknopf hing — «lassen Sie draußen. Hier tritt man mit dem
Zeichen des Kreuzes über die Schwelle.» Ich warf das Ding fort, dann trat
ich über die Schwelle des Hauses, dreimal das Kreuz schlagend, wobei der
Förster seinen Blick nicht von mir ließ.
II.
Aus der kleinen steingepflasterten Vorhalle
wurde ich in den hellen Wohnraum geführt und blieb, von dem Licht
geblendet, einen Augenblick an der Tür stehen. Ich übersah mit einem Blick
das einfache Wohnzimmer einer Försterwohnung, nicht viel anders, als es
bei uns daheim gewesen war. Auch hier brannte unter einem Madonnenbild ein
ewiges Licht und auch in einem roten herzförmigen Lämpchen, wie seinerzeit
bei uns. Plötzlich fiel mir ein, daß es in unserem Hause nur ein einziges
Mal ausgegangen war und zwar an dem Tage, der dem Tod meines Vaters
voranging, was späterhin als böses Vorzeichen gedeutet wurde. Hier aber
brannte es noch und es waren auch sonst viel fromme Bilder in der Stube,
was mich, den Madonnenmaler, heimisch anmutete. Mitten auf dem Eßtisch
stand streng und hochgereckt ein gezimmertes Kruzifix. Bei meinem Eintritt
erhoben sich zwei Frauen, eine ältere und eine jüngere und mir fiel auf,
daß sie mit den Händen nach einem blitzenden Gegenstand auf ihrer Brust
faßten und ihn ein wenig emporhielten. Ich sah, daß es silberne Kreuze
waren, welche sie an Samtbändern um den Hals trugen. Ich merkte, daß ich
in ein sehr frommes Haus gekommen war, und so schien es mir angemessen,
nochmals das Kreuz zu schlagen und mit dem Gruße: «Gelobt sei Jesus
Christus» einzutreten. Ich hatte wohl das Richtige getroffen, denn ich
hörte die Worte: «In Ewigkeit Amen» und die Frauenhände sanken von den
Kreuzen herab und streckten sich mir zu freundlichem, wenn auch
zurückhaltendem Gruße entgegen. Ich nannte kurz Namen und Herkunft,
erzählte ohne näheres Eingehen, daß ich vom Regen im Walde überrascht
worden sei und bat um Unterkunft und ein wenig warmes Abendbrot, da ich
hungrig und durchfroren sei. Der Förster meinte, sie hätten zwar schon zu
Abend gegessen, aber etwas für mich würde wohl noch da sein und während
die Tochter in die Küche ging, betonte ich, daß ich nicht als Bettler
komme, sondern gewillt sei, meine Nahrung und Unterkunft zu bezahlen, was
das Ehepaar jedoch gleichgültig ließ. Das junge Mädchen brachte eine
Schüssel Kartoffeln in dampfender Milch, und ich wollte mich eben
heißhungrig darüber hermachen, als mich der Vater streng verwies: «In
diesem Hause pflegen wir für jede Mahlzeit Gott zu danken.» Wiewohl ich
stets von herzlicher Frömmigkeit erfüllt gewesen war, erschien mir dies
Verfahren ein wenig umständlich, allein ich willfahrte dem Begehr, wobei
ich bemerken konnte, daß die Blicke aller Anwesenden scharf an meinen
Lippen hingen. Als ich gegessen hatte, nahm der Förster ein Licht, führte
mich eine Treppe höher und wünschte mir gute Nacht. Beim flackernden
Schein des Talglichts sah ich nur soviel, daß das kleine Kämmerchen
einfach und sauber war wie alles hier im Hause; auch hier fehlte ein
gezimmertes Kreuz nicht. Ich entkleidete mich, warf mich ins Bett und
verfiel alsbald in tiefen Schlaf.
Ich sollte mich jedoch seiner nur wenige
Stunden erfreuen, denn um Mitternacht — ich konnte es mit einem raschen
Blick auf meine Uhr feststellen — erwachte ich von einem furchtbaren
Schrei. Ein Schrei ist im Grunde nicht das richtige Wort für das
entsetzliche Heulen, von dem man nicht unterscheiden konnte, ob es von
einem Menschen oder von einem Tier ausgestoßen worden war. Etwas wie
rasende Verzweiflung, wie wüste Gier und wilder Triumph klang daraus. Ich
konnte es mit vollkommener Deutlichkeit vernehmen, obwohl es in
beträchtlicher Entfernung ausgestoßen worden sein mußte, und mir gefror
das Blut. Aber auch die anderen mußte es erweckt haben, denn ich hörte von
unten Frauenstimmen und das Durcheinander aufgeregter Menschen. Besorgt,
es könnte der Familie meines Gastfreundes etwas zugestoßen sein, fuhr ich
hastig in meine Kleider und eilte hinab. Vor der Tür des Wohnzimmers
vernahm ich Fetzen eines Gesprächs. «Er ist es, er ist es!» rief jammernd
eine Stimme, offenbar die der Frau, «das Unheil ist nun bis zu uns ins
Haus gekommen!» «Nein», erwiderte eine dunkle Stimme, vermutlich die des
Mädchens beruhigend, «er ist es nicht. Träte solch einer mit dem Zeichen
des Kreuzes über die Schwelle?» Es schien mir, als sprächen die beiden
Frauen von mir und ich stieß die Türe auf. Bei meinem Eintritt ging es wie
eine Erleichterung über ihre Gesichter. Mir fiel auf, daß sie vollständig
angekleidet waren, aber ein wenig zerdrückt und zerzaust, als ob sie sich
in den Kleidern aufs Bett geworfen hätten. Nun ging die Haustür und der
Förster kam aus dem Walde zurück. Schweigend stellte er seine Büchse fort,
seine Tochter blickte ihn an, er schüttelte den Kopf. Auch ich wollte
reden, «Fragen Sie nicht,» sagte er fast feierlich zu mir, «und sprechen
Sie mit uns ein Gebet für eine arme Seele, deren ferneres Schicksal wir
nicht mehr kennen.» Ich wollte dennoch fragen, er aber legte den Finger an
die Lippen. Dann traten wir um das Kruzifix und sprachen ein stilles
Gebet. «Nun mögen Sie sich zur Ruhe legen», sagte der Förster. «Heut’
nacht wird nichts mehr Sie stören.» Ich begab mich nach oben, aber das
Bewußtsein eines rätselhaften Geschehens bedrückte mich und ich wälzte
mich lange grübelnd hin und her. Endlich aber siegten Jugend und Ermüdung
und ich schlief bis tief in den Morgen.
Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft
war so grau und freudlos, so wenig einladend zum Wandern, daß ich schon
bereute, mich in das Abenteuer dieser Fußreise eingelassen zu haben. Unter
meinem Fenster lag das zum Hause gehörige Gärtchen, aber wiewohl es
sorgsam gepflegt schien, kam das Gemüse hier nur spärlich fort und keine
Blume zeigte sich an den Stöcken. Der Wald stand zu hart daran und nahm
ihnen die Sonne. Eine große Traurigkeit schien mir über allem zu liegen.
Ich ging hinab ins Wohnzimmer, wo ich das junge Mädchen beim Aufräumen
beschäftigt fand und sie brachte mir Frühstück. Ich fragte sie, ob sie und
die Ihren etwas dagegen hätten, wenn ich noch einen Tag hierbliebe, da das
Wetter so gar nicht zur Weiterreise locke. «Bleiben Sie nur», sagte
sie hastig. «Es ist besser für Sie, wenn Sie bleiben und am
Ende auch für uns.» «Nach dieser Äußerung glaubte ich eine Frage über die
Vorgänge der Nacht an sie richten zu dürfen, allein sie fuhr zusammen und
gebot mir Schweigen.
«Mißverstehen Sie mich nicht», sagte ich.
«Es ist nicht Neugierde allein, die mich zu dieser Frage treibt, sondern
es scheint wir, als wären Sie und die Ihren, ja alles ringsum im Banne
eines furchtbaren Geschehens, das ich nicht enträtseln
kann.»
«Fragen Sie nicht», bat sie erbleichend.
«Wenn ein Fremder danach fragt, könnte es sein, daß es
…»
«Daß es …»
«Daß es erscheint», sagte sie
zusammenfahrend.
«Diese Macht wird es wohl nicht haben,»
sagte ich, «es müßte rein ein Teufel sein oder ein böser Geist
…»
«Still!» rief sie aus. In diesem Augenblick
wurden wir unterbrochen. Ein Mann im Uniformrock kam vorbei, blieb am
Fenster stehen grüßte und fragte kurz: «Es soll heut’ nacht wieder was
gegeben haben, sagen mir die Holzhauer.» «Jawohl, Herr Forstinspektor»,
versetzte das Mädchen knapp.
Der Inspektor, ein langer magerer Mann mit
blondem Backenbart und einem kalten nichtssagenden Amtsgesicht fragte
weiter: «Wo ist der Vater?»
«Schon in der Früh mit dem Martin auf Suche
gegangen», sagte das Mädchen und es fiel mir auf, wie stramm
und sachlich die vorhin so Erregte auf seinen Amtston
einging.
«Schön. Wenn er zurück ist, soll er sich
bei mir melden», sagte der Forstinspektor und griff mit zwei
Fingern an seine Kappe. Da kam von der anderen Seite der Förster heran.
Ich war überrascht, wie machtvoll und hochgereckt seine Gestalt wirkte,
mir war das am Abend gar nicht so aufgefallen, aber sein Gesicht schien
mir noch gramvoller zu sein.
«Gefunden?» rief ihm der Inspektor
entgegen.
«Zu Befehl, Herr
Forstinspektor.»
«Wer war’s?»
«Die Sennen-Marie. Sie ist bei ihrem
Geliebten, dem Holzhacker-Alois gewesen, der mit einer
Fußwunde in seiner Hütte liegt und hat wohl in der Nacht den
Weg hinauf verfehlt.»
«Tot?»
«Natürlich», sagte der Förster mit einer
Bitterkeit, die ganz von seinem bisherigen sachlichen Ton
abwich.
«Wo?»
«Am Rockenstein.»
«Wie hat man sie
gefunden?»
«Wie man sie alle
findet.»
«Was soll das heißen?» fragte der
Forstinspektor scharf. «Nach rückwärts abgestürzt, der Hals gebrochen, der
Knochen durch die Schlagader gestoßen, ausgeblutet — hat man je gehört,
daß das fürchterliche Geschöpf jemanden anders zugerichtet
hat?»
«Nun ist’s aber genug!» rief zornig der
Inspektor. «Da bemüht man sich, euch abergläubischem Volk Vernunft
beizubringen und ihr bleibt bei euren Köhlermärchen. Ich weiß schon, Herr
Förster», sagte er plötzlich in respektvollerem Tone, «daß Sie nicht zum
Volk gehören — aber es ist schlimm genug, daß Sie, ein intelligenter
Mensch, nichts von Aufklärung wissen wollen. Abstürze sind in jeder
Alpengegend unvermeidlich und augenblicklich knüpft ihr eure
Schaudergeschichten daran. Ich glaube noch immer an die Zufälligkeit
dieser Geschehnisse. Sie, als Waidmann, wissen am besten, daß sich keine
Spur eines Tieres findet, und was die Menschen betrifft, so spricht auch
vieles dagegen. Sollte aber ein Mensch der Schuldige sein, so wird er
unserer Wachsamkeit nicht entgehen.»
«Sie wissen selbst, Herr Forstinspektor»,
sagte der Förster und sah dem andern fest ins Gesicht, «daß ein Mensch
nicht der Schuldige ist.»
«Schweigen Sie und schämen Sie sich!» rief
der Inspektor und stampfte mit dem Fuß. Dann richtete er seinen kalten
Amtsblick auf mich, der noch immer am Fenster stand, und fragte: «Wer ist
der Herr?» Ich gab Auskunft. «Haben Sie Papiere?»
Ich hatte sie bei mir, und er überflog sie.
«Ist gut», sagte er und gab sie mir zurück, wobei er seinen harten Blick
nicht von mir ließ. Dann gab er dem Förster noch eine Anweisung zur
Bergung der Leiche und ging. Mir fiel auf, daß er vor dem Hause plötzlich
stehen blieb und ins Gebüsch griff. Ich sah dort den Drudenfuß aus
Tannenzweiglein hängen, den ich am Abend vorher weggeworfen hatte. Er hob
das Ding an seine Augen, lachte höhnisch und zermalmte es unter seiner
Stiefelsohle zu kleinen Stücken.
Der Förster war ins Zimmer getreten und
schlug mit der Faust auf den Tisch. «Da haben wir die hohe Behörde!» rief
er zornig. «Das gestempelte Amtspapier ist ihnen wichtig — das
Grauenvolle, das sich in unserer nächsten Nähe zuträgt, soll Zufall oder
verbrecherische Menschentat sein!»
Das Mädchen war in die Küche gegangen und
es schien mir nun der Augenblick gekommen, endlich zu hören, was ich zu
hören brannte. Doch kaum hatte ich meine Fragen gestellt, als der Mann
verschlossen wurde und sie abwies. Soviel hatte ich schon begriffen, daß
die Untaten ringsum einem Wesen mit besondern Kräften zugeschrieben
wurden, und blitzartig fiel mir mein unheimliches Erlebnis von gestern ein
mit dem plötzlich niedergehenden donnerlosen Blitz und dem
davonjagen den fremdartigen Tier. «Es gibt wohl viele dunkle Dinge
im Walde», fragte ich.
«Sehr dunkle. Sie sind nicht nur im Walde,
sie sind auf der ganzen Welt. Aber hier spürt man sie besser, weil hier
Naturkräfte leben, die sonst von überall vertrieben sind.»
«Ist nicht Gott die Natur?» fragte
ich.
«Welchen Gott meinen Sie?» gab er zurück.
«Es gibt viele.»
Ich sah auf das Kruzifix vor mir. «Sind das
nicht heidnische Worte in einem so frommen Hause?»
«Was ist Heidentum? Auch das ist
Glaube.»
«Aber ein böser.»
Er sah mich groß an. «Die Natur kennt gut
und böse nicht. Hier geschieht, was geschehen muß. Das Christentum kommt
nicht aus der Natur. Darum flüchten wir zu ihm, wenn wir vor
Unbegreiflichem flüchten müssen — um uns und in uns.»
Ich verbarg meine Überraschung nicht. «Sie
wundern sich über solche Worte hier», meinte der Förster. «Im Walde lernt
man über manches nachdenken. Übrigens war ich nicht immer im Walde. Und
vielleicht,» sagte er düster, «wäre es besser für mich gewesen, ich wäre
nie hergekommen.»
Ich war etwas beklommen. «Übrigens», fuhr
er fort, «möchte ich Sie darüber beruhigen, daß Sie sicherlich in kein
heidnisches Haus gekommen sind. Ich selbst bin sogar Mönch gewesen —
wenigstens Novize. Ich stamme aus einem sehr frommen Hause. Ich selbst
sehnte mich nach Stille, Andacht und Beschaulichkeit. In dem Kloster, in
das ich eintrat, war freilich nicht viel davon zu finden. Die
Leidenschaften trugen andere Namen, aber es waren die gleichen wie in der
Welt draußen. Aber selbst, wenn ich ein ideales Kloster gefunden hätte,
deren es ja geben mag — ich hätte nicht bleiben
können.»
Er schwieg. Ich wollte zu meinem
ursprünglichen Thema zurückkehren. «Sie sprachen vorhin zu dem Inspektor
von einem Wesen, das ein seltsames Ungetüm sein muß. Er schien es für eine
Spukgeschichte zu halten.»
«Er ist die Behörde», sagte der Förster
verächtlich. «Ob er nicht noch Schlimmeres ist — das wird sich zeigen.
Spuk freilich, davon habe ich gewiß nicht gesprochen. Das gibt es nicht.
Es gibt nur einen ungeheuren Kampf zweier Mächte, die gleich stark
sind.»
«Wir kennen nur die Macht unseres
Gottes.»
«Unser Gott war nicht immer Herrscher
hier.»
«Und doch haben Sie, Herr Förster, Ihr
ganzes Haus in die Macht dieses Gottes gestellt. Sie vertrauen also auf
seinen Schutz.»
«Mich wird er nicht schützen», sagte er
düster. «Denn ich habe ihm mein Wort gebrochen.
Zweimal sogar. Später geschah das mit Agnes
…»
Ich wagte nicht zu fragen, aber er selbst
gab mir die Erklärung. «Ich habe meine Agnes, als sie als Kind todkrank
war, dem Kloster Maria von Loreto verlobt, wenn sie gesund würde. Ich habe
auch dieses Wort nicht gehalten. Es geschah aus Ehrfurcht vor Gott. Das
Kind war wie ich. Ich wollte keine Seele zu ihm zwingen, die nicht dazu
taugte. Dennoch grollt er seitdem. Ich kann Ihnen nicht von allem Ungemach
erzählen, das mich traf, bis ich vor einigen Jahren in dieser Försterei
ein Asyl fand. Das Kruzifix hier hat keine Macht. Gott läßt sich nicht
bestechen. Er schützt uns nicht.»
«Gott ist gütig.»
«Jede Gottheit ist streng und grausam»,
sagte er. «Sonst wäre es keine Gottheit.»
«Gott ist die Liebe.»
«Gott ist der Haß.»
«Und dennoch flüchten Sie zu
ihm?»
«Wohin denn soll man flüchten — vor dem
Unbegreiflichen in sich?» Er stand vor dem gezimmerten Kruzifix. Mir war
es, als ob er und der Gekreuzigte einander messen würden als Feinde. Mich
überlief es. Die Försterstochter kam herein und stellte eine Schüssel mit
Essen vor den Vater hin. Und er, der noch eben Worte gesprochen, die mehr
als Zweifel waren, schlug fromm das Kreuz und murmelte ein paar
Gebetsworte, ehe er den Löffel zum Munde führte. Zum ersten Male sah ich
Agnes näher an und sie schien mir schön. Sie war schlank mit feinen
Gliedern, ihr Gesicht fremdartig, dunkel und zart. Über der Nasenwurzel
stießen die Brauen zusammen, was nur bei Menschen der Fall ist, die zu
merkwürdigen und dunklen Schicksalen bestimmt sind. Nein, ins Kloster
hätte sie nicht gepaßt. Sie schien anders, als die jungen Mädchen, die ich
sonst kannte, sie sprach wenig und es war etwas um sie, was mir
geheimnisvoll und anziehend schien.
Nun trat eine für mich neue Figur in das
Bild und das war der Jagdgehilfe Martin, ein großer, schwarzäugiger und im
übrigen auffallend hübscher Bursche, dessen Lebhaftigkeit mich ein wenig
an meinen im Tal zurückgebliebenen Gefährten erinnerte, an den ich, weiß
Gott, jetzt zum ersten Male wieder dachte. Der Forstgehilfe hatte von
meiner Ankunft schon gehört und sprach seine Freude darüber aus, daß mir
bei diesen Zeitläuften nichts Schreckliches passiert sei. Dabei schoß er
einen spöttischen Blick nach dem Förster hinüber, der jetzt schweigend
seine Pfeife rauchte. Er selbst sei wenig im Hause, das ausgedehnte Revier
mache seine Anwesenheit an entfernten Punkten desselben nötig, und er habe
sich da und dort ein paar Schlafstellen errichtet, da seine Spezialität
das Abfassen von Wild- und Holzdieben sei. Agnes hatte bei
seinem Eintritt das Zimmer verlassen, nun kam sie zurück und
stellte schweigend sein Essen vor ihm hin. Auf den ersten Blick war zu
merken, daß zwischen den beiden ein etwas gespanntes Verhältnis bestand,
denn er dankte ihr mit einer ironischen und übertriebenen Höflichkeit, die
sie mit völliger Nichtachtung erwiderte, doch fiel mir der mißtrauische
Blick auf, den sie zuweilen nach ihm sandte. Dann schickte er sich mit
entschiedener Abneigung an, die hier üblichen Gebetsworte zu murmeln, ehe
er sein Essen verzehrte. Agnes ging wieder in die Küche, der Förster in
seine Gewehrkammer, und Martin, der inzwischen seine Mahlzeit beendet
hatte, forderte mich auf, mit ihm zu kommen.
«Sie sind da in ein nettes Tollhaus
geraten», sagte er, als wir nebeneinander hinschritten.
«So toll kann ich es just nicht finden»,
meinte ich.
«Der Alte wird Ihnen wohl allerhand
wunderliche Ammenmärchen aufgetischt haben.»
«Er hat mir eigentlich nichts über die
seltsamen Vorgänge gesagt.»
«Seltsam sind sie in der Tat aber nur, weil
wir die natürliche Erklärung noch nicht haben. Sie wird aber wohl kommen.
Ein wildes Tier, das müssen Sie dem Jäger schon glauben, fällt sein Opfer
anders an, auch fehlt uns jede Spur, die selbst in diesem Regensommer, wo
die elastische Schicht der feuchten Tannennadeln uns ungünstig ist, doch
nicht zu verwischen wäre. Daß ein Mensch der Schuldige ist, wäre schon
eher denkbar, aber auch der Mensch könnte seine Spur nicht verwischen.
Überdies hätte ein solcher auch seine Opfer nicht im Besitz ihres Geldes
und Schmuckes gelassen, wie es immer der Fall war. Selbst die arme
Sennen-Marie hat ihr dünnes silbernes Kreuzlein noch umgehabt, das ihr ein
Mensch sicherlich abgerissen hätte; denn auch ein Wahnsinniger wäre
vermutlich von seinem Blinken angezogen worden.»
«Sie hat ein Kreuz gehabt und es hat sie
nicht geschützt?»
«Leider nicht, wie Sie sehen. Die einzige
natürliche und vernünftige Erklärung ist es, hier an böse Zufälle zu
glauben, wie sie ja oft reihenweise vorkommen. Der Schrei des Abstürzenden
aber tönt, durch das Echo vergrößert, schrecklich genug. Das meint unser
Forstinspektor auch. Der Inspektor ist ein tüchtiger und vernünftiger
Mann, der sich und den andern keine Mätzchen vormacht, er mag das
phantastische Wesen nicht und er steht sich nicht sonderlich gut mit dem
Förster, den er als vornehmen Dilettanten betrachtet, welches Mißtrauen
der Förster fühlt und ihm zurückgibt. Es ist nicht gut, wenn sich
allzuviel Aberglauben festsetzt, der im Walde schon groß genug ist. Der
spricht in seiner Art nicht viel anders, als der alte Köhler-Michel,
dessen Meiler Sie dort unten rauchen sehen. Ist nicht schon seine Art,
sich mit Heiligenbildern zu umgeben und keinen Bissen ohne Augenverdrehen
zu sich zu nehmen, mehr als töricht? Das ist nichts für uns junge
Menschen, die wir Freiheit, Wahrheit und Aufklärung wollen.
Das meint auch der Forstinspektor. Ich bin darum froh, daß ich nicht viel
im Hause bin.»
«Nun sagen Sie mir aber endlich: wen
bezichtigt der Förster der Verbrechen? Wer er ist das Ungetüm, dessen Name
nie genannt wird?»
«Ach», sagte der hübsche Bursche und wurde
ein wenig rot, «davon soll man lieber nicht sprechen. Nicht daß ich mich
davor fürchte, Gott behüte, ich habe Ihnen doch eben gesagt, wie
aufgeklärt ich bin. Aber zwischen Johannisnacht und Tag- und Nachtgleiche
muß man im Walde nicht über alles reden. Besonders nicht an so
eigentümlich grauen Tagen wie sie jetzt sind.»
«Also sind auch Sie
abergläubisch?»
«Gott bewahre! Aber der Wald hat seine
Gesetze. Man fügt sich ihnen, auch wenn man nicht an sie glaubt. Ich
glaube vor allem an meine Kraft und Jugend», sagte er und ballte die
Fäuste.
Durch irgendeine Verbindung glitten meine
Gedanken zur Försterei zurück. «Was für ein schönes Mädchen die
Forsterstochter ist!» sagte ich. «Man merkt gleich, daß sie nicht von hier
stammt. Sie sieht so fremdartig aus.»
«Finden Sie sie schön?» fragte der
Forstgehilfe und bemühte sich, die Lippen zu kräuseln. «Nun ja, wer für
aparte Fratzen schwärmt, für den mag diese da schön sein. Hier im Walde
ist übrigens ein viel besserer Mädchenschlag als sonst in der Gegend. Die
arme kleine Sennen-Marie, die heute nacht starb, war viel hübscher als die
hochmütige Förstersjungfer, kann ich Sie versichern.» Sein mißmutiges und
gereiztes Gesicht verriet mir abermals, daß es zwischen ihm und der
Försterstochter etwas gegeben haben mußte.
Wir waren derweil auf die Lichtung
hinausgetreten, wo der Meiler rauchte und hörten erregte Stimmen. Von der
Höhe seiner sechs Fuß herab donnerte der Forstinspektor ein uraltes
verhuzeltes Männlein an, das sich aber durchaus nicht einschüchtern ließ,
daß es nur halb so groß war wie jener, sondern tapfer zu ihm
hinaufzeterte. Es war zu entnehmen, daß der Inspektor den Köhler-Michel
dabei betroffen hatte, irgendeine neueingeführte Sicherheitsmaßregel
unterlassen zu haben, während der Alte versicherte, er behandle seinen
Meiler, wie er es seit sechzig Jahren getan, ebenso wie sein Vater und
Großvater, und noch niemals sei ein Waldbrand entstanden. Keiner schien
geneigt nachzugeben, bis der Inspektor unter Androhung einer strengen
Strafe die Unterhaltung abbrach, den Forstgehilfen zu sich winkte und mit
ihm davonging. Mich beachtete er weiter nicht und ich blieb mit dem Alten
allein.
«Der Teufel!» murmelte der Alte, indem er
um seinen geschmähten Meiler herumging. «Dieser Teufel! Glaubt er, ich
wisse nicht, wer er ist? Aber seine Zeit wird schon
kommen!»
Ich besichtigte den Meiler mit Interesse,
denn dergleichen war mir aus meiner Kinderheit noch in Erinnerung Ich sah
die Pfähle, um die das Holz ungefüg aufgeschichtet war und die Schicht von
Gras und Erde, die es bedeckte — nach den Wünschen des Inspektors offenbar
nicht dicht genug. Dabei fiel mir ein, daß mir dieser uralte waldvertraute
Mann wohl manches über die Vorgänge hier würde verraten können, und ich
fragte ihn.
«Freilich», nickte er, «freilich. Ich bin
achtzig. Ich weiß mehr als andere. Aber jetzt nicht, Herr. Es geht auf
Mittag. Da haben sie wieder Macht.»
«Wer hat Macht?»
«Mittag ist keine gute Stunde im Walde. Da
sind wieder andere da, die Wärme brauchen — aber man soll ihnen auch nicht
trauen, so wenig wie denen vom Nebel. Aber morgens, wenn die Sonne ein
paar Stunden am Himmel steht, da kann der Herr kommen und fragen. Ich bin
achtzig, Herr, ich habe immer hier gelebt und mein Vater und Großvater
auch, ich weiß viel, Herr. Aber es ist besser, der Herr kommt bei
Sonnenschein.»
Ich drückte ihm ein Päckchen mit
Schnupftabak in die Hand und wußte nun wenigstens, wo ich mir Auskunft
über so manches holen könnte, was mich bedrängte.
II.
Es machte sich ganz von selbst, daß ich im
Försterhause blieb. Das Wetter schien neblig bleiben zu wollen. Mir war es
hier, trotz all des Unheimlichen oder vielmehr deswegen, seltsam vertraut
geworden. Ich bat den Förster, als zahlender Gast noch eine Weile in
seinem Hause weilen zu dürfen, und er hatte nichts dagegen; der Försterin
schien es sogar lieb zu sein. Was aber Agnes anbelangte, an der mir am
meisten gelegen war, so hatte ich ihre Zustimmung ja schon empfangen. Ich
sandte durch einen Holzknecht, der zu Tale ging, einen Brief an meine
Mutter und Botschaft an meinen Freund, daß ich meine Pläne geändert hätte
und ihn bitte, sich in keiner Weise nach mir zu richten. Um nicht müßig zu
gehen, hatte ich meinem Ränzel das Malgerät entnommen, das ich neben ein
paar Elfenbeinplättchen fürsorglich mit eingepackt hatte und begann, ein
Madonnenbildchen zu malen. Es sollte ein Gastgeschenk für die
Försterstochter sein, und es schien mir ein guter Einfall, die Mutter
Gottes ein wenig nach ihrem Antlitz zu bilden, doch das wollte nicht recht
glücken; denn ihr dunkles, scharf- und feingeschnittenes Gesicht und die
strenge Linie ihrer Brauen waren zu verschieden von der blonden
Holdseligkeit, die ich meinen Madonnen bisher verliehen
hatte.
Auch mußte ich nach dem Gedächtnis
arbeiten, und obgleich es mir schien, als habe mein Auge ihr
charakteristisches Gesicht bis ins kleinste erfaßt, so entglitt es mir
doch immer wieder, wenn ich in meiner Stube saß. So verbrachte ich viele
Regenstunden des Nachmittags mißmutig und doch
gefesselt.
Nachts blieb alles still. Schon beim
Abendessen herrschte eine ruhigere Stimmung; denn das Unheimliche
ereignete sich nie zwei Nächte hintereinander, versicherte mir die
Försterin und so würden sie sich heute alle ruhig auskleiden und zu Bette
gehen. Der Forstgehilfe Martin schlief heute im Hause, er hatte seine
Kammer neben der meinen und durch die Wand hörte ich seine tiefen gesunden
Atemzüge. Als ich am nächsten Morgen eine blasse Sonne ein wenig kraftlos
durch den Nebel scheinen sah, schien mir der Augenblick gekommen, meinen
Köhlerfreund aufzusuchen.
Er wartete schon auf mich. «Die Stunde ist
gut», sagte er, «die Sonne scheint. Die, von denen ich reden will, lieben
nur den Nebel und die Nacht. Zu Mittag gibt es dann wieder andere,
bocksfüßiges, landfremdes Gesindel, mit dem ich auch nichts zu tun haben
möchte. Um diese Stunde aber geben sie alle Ruhe. Der Herr möge Platz
nehmen und sich nicht daran kehren daß der Baumstumpf rußig ist. Und wenn
er mich hören will, will ich berichten, was ich von Vater und Großvater
weiß. Es gibt ein uraltes heidnisches Tier in unsern Wäldern, dessen Namen
man nicht nennen soll. Es ist aber das Böse und Gefährliche dieses Tieres,
daß es sich bei Tage in Menschengestalt verwandeln kann, vielmehr: es ist
ein Mensch und nur alle sieben Jahre zwischen Johannisnacht und Tag- und
Nachtgleiche verwandelt es sich in einen riesigen Wolf, größer als ein
Menschenauge ihn je erblickt, plump und schwer, doch von so geisterhafter
Raschheit und Leichtigkeit des Laufes, daß er keine Spuren zurückläßt.
Wenn es finster wird, muß er Menschen anfallen und töten, doch nicht indem
er sie zerfleischt, sondern indem er ihnen das Genick bricht und ihr Blut
aufleckt. Das gibt ihm dann Kraft für einen Tag oder mehrere. Je mehr es
auf den Herbst zugeht, desto größer wird seine Gier; es ist, als wollte er
seine Zeit noch ausnützen. Der Mensch aber, der er bei Tage ist, weiß von
all dem Schauerlichen nichts. Er kann herumgehen, wie der Herr und ich und
jede Erinnerung an sein schauriges nächtliches Wesen fehlt ihm. Dieses
furchtbare Tier ist ein Geschöpf des Heidengottes und ihm Untertan. Das
Christentum hat keine Macht über ihn und das heilige Zeichen des Kreuzes
fürchtet er nicht. Nur eins hat Macht über ihn — der Drudenfuß, denn das
ist ein Zeichen des Heidengottes, seines Gottes. Wer den Drudenfuß an sich
trägt, dem tut er nichts. Der Herr sieht dort an meiner Hüttentür den
eisernen Drudenfuß hängen? Mein Großvater hat ihn gehämmert und nachts
brächte mich keiner ohne ihn in den Wald. Mir ist das
furchtbare Tier auch noch nie begegnet, trotzdem ich sein
Lustgeschrei habe gellen hören. Trifft es auf einen, der
dies Zeichen an sich trägt, dann geht sein Zorn als ein Blitzstrahl
in die Erde nieder, dem kein Donner folgt, und das betrogene
Tier rast davon und sucht sich ein anderes
Opfer.»
Mir wurde kalt.
«Nun wird der Herr fragen,» fuhr der Köhler
fort, «warum denn nicht alle Menschen, wenigstens soweit sie
hier aus dem Lande sind, einen Drudenfuß bei sich haben? Das
kommt daher, weil sie uns Köhlern nicht
glauben, sondern lieber den Priestern. Sie
meinen, ihr Kreuz schütze sie genug. Aber das ist ganz
falsch. Denn der Christengott kommt aus dem fernen Asien,
und was unsere Wälder sind und wer darin herrschte,
woher soll er das wissen? Er ist ein
fremder Gott, der hier nie recht heimisch geworden ist, und
darum schicken die alten Götter, die vertriebenen, noch
zuweilen ein Wesen aus, das ihnen Untertan ist. Die
Pfaffen nennen das den Teufel. Das ist aber
unrichtig. Es gibt keinen Teufel. Es gibt nur vertriebene
Götter.»
«Kann nichts das unselige Geschöpf
erlösen?»
«Eine Erlösung gibt es. Wenn das liebste
Wesen, das er als Mensch hat, das Furchtbare errät, was dem
Menschen selbst verborgen ist, sowie er wieder seine
Menschengestalt angenommen hat, und sich ihm freiwillig zum
Opfer bringt. Aber das ist selten, Herr. Woher soll ein anderes
wissen, was jener selbst nicht weiß, was er bei Tage hinter einer
ganz anderen Art verbirgt? Wie wollte ein Wesen, das liebt,
dem anderen solches zutrauen? Aber wenn es doch geschieht,
dann ist das furchtbare Geschöpf erlöst — nicht in dem Sinn,
Herr, daß es nun in den Himmel kommt und mit den Engeln
Psalmen singt. Sondern so, daß die urewigen Mächte, die es
ausgeschickt haben, es wieder zu sich nehmen in ihren Schoß.
Ob es dann zur Ruhe kommt, ob es in fürchterlichem Jagen über
die Erde hinbraust, ob es in ein stilles Schattenreich eingeht —
das weiß niemand zu sagen.»
«Kann keiner das Tier
töten?»
«Es ist unverwundbar, Herr, aber man dürfte
es auch nicht. Es ist ein heiliges
Tier.»
«Heilig? Dieses
Scheusal!»
«Es ist heilig, weil es alles Böse, alles
Übel, alle Schuld auf sich nimmt. Man kann das Tier töten,
solange es ein Mensch ist. Denn der Mensch, der von all dem
Bösen in sich nichts weiß, der herumgeht und scheint wie
alle anderen, der ist tötenswert. Aber wenn das Böse lügenlos und
ohne Verstellung aus ihm herausbricht dann ist es
heilig.»
«So haßt ihr also auch den Menschen nicht,
der in dieser Gestalt nur Hülle ist für
Böseres?»
«Ob ich ihn hasse?» flüsterte der Alte, «ob
ich ihn hasse? — Still», sagte er mit einem Male und preßte meine Hand.
«Ich wußte es ja.»
Hinter der Köhlerhütte war der
Forstinspektor plötzlich hervorgetreten. «Ich wollte nur sehen, verehrter
Greis», sagte er, «ob Ihr Euch heute besser meinen Anordnungen gefügt
habt. Ich habe meine strengen Instruktionen von der Regierung und wir
haben keine Lust auf Waldbrände, wie sie im Oberösterreichischen wüten.
Der Herr ist noch hier?» fragte er, seinen harten Blick auf mich richtend.
«Ich dachte, er wäre nur auf der Durchreise.»
«Ich gedenke noch einige Tage zu bleiben»,
sagte ich kalt, «und es dürfte mich niemand daran hindern können. Meine
Papiere sind in Ordnung.»
«Der Herr muß nicht viel zu tun haben»,
meinte der Inspektor höhnisch, «und auch keinen sehr guten Geschmack, wenn
er sich von einem alten Köhler allerhand Märchen aufbinden läßt. Leider
hat die Behörde noch kein Mittel gefunden, aber es wird wohl welche geben,
der allgemeinen Verdummung zu steuern. Vorläufig wird sich der Michel
seines Meilers wegen vor einer Sicherheitskommission zu verantworten
haben. Ich wünsche eine gute Unterhaltung.» Er hob zwei Finger nachlässig
an seine Mütze und ging.
«Das Scheusal!» murmelte der Alte und
ballte seine fleischlosen Fäuste hinter ihm her. «Das
Scheusal!»
Ich richtete einen festen Blick auf ihn:
«Ist er’s?»
Der Alte knickte zusammen und sandte einen
angstvollen Blick nach der Richtung, in der der Inspektor verschwunden
war. «Herr wer kann das wissen? Wer darf das sagen?» Und obgleich er eben
von der Nutzlosigkeit des Kreuzzeichens gesprochen hatte, schlug er es
doch aus alter Gewohnheit. Er schien verschreckt. Es war nichts mehr aus
ihm herauszubringen. So drückte ich ihm ein paar Münzen in die Hand und
sah ihn, als ich ging, eifrig an seinem Meiler herumarbeiten. Die Behörde
schien ihn doch noch mehr zu erschrecken als die alten Götter. Was ich
gehört hatte, hatte mich natürlich berührt, aber nicht so stark, wie ich
erwartete. Das Phantastische der Erzählung schien mir doch zu offenbar. Es
mochte sein, ich hatte es ja selbst erlebt, daß ein fremdartiges und
gefährliches Tier sich im Walde zeigte, dessen Anwesenheit selbst den
Jägern Rätsel aufgab. Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, daß
eine Löwin irgendwo aus einer Ménagerie ausgebrochen war und lange Zeit
eine sonst friedliche Gegend unsicher gemacht hatte. Etwas Ähnliches
mochte sich hier ereignet haben, und alles andere, was darum gesponnen
wurde, war vermutlich ins Reich der Legende zu verweisen. Dennoch schien
hier etwas merkwürdig Unwirkliches in der Luft zu liegen. Die Sonne war
wieder hinter Nebeln verschwunden, im Walde roch es moderig und ich fragte
mich, ob es in diesem Lande überhaupt anderes Wetter gehen
könne als Regen. Die Bäume waren von Nebeln umhüllt, ganz weich und doch
bizarr in ihren Formen, der Blick ins Weite war abgeschnitten, und nur
Schatten tauchten aus dem milchigen Dämmer herauf. Mir schien es, als
hätte ich den Wald vordem nie so recht gesehen; denn woran ich mich
erinnert, wonach ich mich gesehnt hatte, das waren die großen Prunkstücke
der Natur gewesen, der brennende Untergang der Sonne oder ihr Flimmern auf
dem Moosboden. Dies war alles ganz anders, auch auf Bildern hatte ich es
nie gesehen, und ich wurde plötzlich traurig, denn ich hieß zwar ein
Maler, aber ich wußte, daß meine bescheidene kleine und enge Kunst nicht
für solche Dinge reichen würde, diese Kunst, die streng an das Herkommen
gebunden und zu schwach war, sich und anderen neue Wege zu
erschließen.
Als ich zum Försterhause kam, sah ich Agnes
am Wohnstubenfenster sitzen, einen großen Korb Flickwäsche vor sich. Sie
aber blickte nicht auf die Arbeit in ihren schmalen braunen Händen,
sondern starrte gedankenvoll ins Leere. Zum ersten Male fiel mir auf, daß
ihre Augen blau waren; ich hatte sie immer für schwarz gehalten, weil sie
so tief lagen und ihr Blick so dunkel schien. Ich faßte mir ein Herz, trat
ins Zimmer und sprach eine Bitte aus: Ich hätte mein Skizzenbuch bei mir,
ob sie mir nicht eine halbe Stunde sitzen wolle? Sie möge ruhig ihre
Arbeit fortsetzen und tun, als wäre ich nicht da. Es genüge mir, wenn ich
mir den Schnitt ihrer Züge einprägen und mit dem Bleistift ein wenig
fixieren dürfe.
«Nein», sagte das Mädchen freundlich aber
fest. «Das will ich nicht haben.»
Ich fragte nach dem
Grunde.
«Wer mein Gesicht wegträgt, stiehlt mir ein
Stück von mir. Mein Gesicht gehört mir, es ist das einzige, was ich ganz
zu eigen habe. Es ist nur einmal da und soll nicht abgeschildert
werden.»
«Das ist eigentlich eine Ansicht, die aus
dem Orient stammt,» sagte ich, «wo die Religion die Nachbildung des
Menschenangesichts verbietet. Unser Glaube hat nichts dagegen.» Und ich
wies auf die vielen Heiligenbilder im Raum.
«Man hat sie ja nicht gefragt», sagte das
Mädchen achselzuckend. Sie haben sicherlich auch nicht so ausgesehen. Und
täten sie es selbst — ich mache mir nichts aus Bildern, weil sie mich zu
einer Vorstellung zwingen wollen, zu der ich mich nicht zwingen
lasse.»
Das tat mir, dem Madonnenmaler, weh,
besonders wenn ich an das Bildchen dachte, mit dem ich sie hatte erfreuen
wollen. Und zu gleicher Zeit überraschte es mich als ein neuer Beweis
jener ketzerischen und hartnäckigen Selbständigkeit, die
sich in diesem Hause hinter hingebendster Frömmigkeit
verbarg.
So blieb mir nichts übrig, als oben auf
meinem Zimmer unlustig an meiner Madonna herumzustricheln, aber alle
Freude daran war mir vergangen, und schließlich fing ich eine andere in
meiner alten Manier an, die ich nach Hause mitnehmen und verkaufen konnte.
Ich war nur ein Kunsthandwerker, das wurde mir klar, und meine Miniaturen
würden mit der Mode leben und sterben. Vielleicht grub sie in hundert
Jahren ein Sammler als Kuriosität aus, aber mit der Kunst hatte diese
liebliche Glattheit nichts zu tun. Das empfand ich erst ganz in dieser
Welt, die wild, zerrissen und verworren schien, und es verbesserte meine
Stimmung nicht.
Auch die anderen schienen im Laufe des
Tages unruhiger zu werden und obgleich sich das Leben in den nun schon
gewohnten Formen abspielte, die Frauen ihre Hausarbeit taten, die Männer
die Geschäfte des Dienstes verrichteten, war irgendwo ein magnetischer
Strom, der an den Nerven riß. Martin meinte, es liege in der Luft, sie sei
mit Elektrizität geladen und ein Wetterwechsel stünde bevor. Ein tüchtiger
Sturm, ein ordentlicher Schneefall und es würden Herbsttage von
unvergleichlicher Schönheit kommen. Einstweilen lagen aber noch dunstige
Schleier über der Gegend und die Öllämpchen mußten früher entzündet werden
als sonst um diese Zeit.
Die Abendmahlzeit war ausführlicher als
gewöhnlich, und ich konnte beobachten, wie sehr Vater und Tochter
aneinander hingen. Sie schienen Geschöpfe einer Welt und eines Willens zu
sein. Nach ihrer kargen Art gingen wenige Worte zwischen ihnen hin und
her, aber zuweilen ruhten ihre Augen mit einem Blick vollkommenen
Verstehens ineinander, in den sich von Agnes’ Seite etwas wie Angst
mischte; denn der Förster hatte etwas Verfallenes an sich. Martin saß
mißvergnügt dabei; es war kaum zu verkennen, daß die Försterstochter
seinem Herzen nähergestanden haben mußte und daß sein Schmerz und Ärger
über eine Zurückweisung noch lebendig war, die er unter einem künstlich
unbefangenen Wesen zu verbergen trachtete. Die Mutter schien auf seiner
Seite zu stehen und nicht recht zu begreifen, was die Tochter an dem
hübschen Burschen auszusetzen gehabt hatte. In das innige Verhältnis
zwischen Vater und Tochter war sie offenbar nicht zugehörig, obgleich man
ihr mit aller Hochschätzung begegnete. Mit ihrem völligen Aufgehen im
Nächsten erinnerte sie mich ein wenig an meine gute Mutter, deren Einblick
in die Seelen auch kein sehr tiefer war. Sie war offenbar einmal sehr
schön gewesen und schien es nicht recht verwinden zu können, daß sie
dereinst in größeren Umständen gelebt hatte. Den Wald liebte sie nicht und
fand ihn unheimlich. In all den Jahren ihres Hierseins war sie
nur draußen gewesen, wenn es unbedingt sein mußte. Die Tochter
dagegen liebte den Wald leidenschaftlich und ihre kargen Worte strömten
dichter, wenn sie von weißen Mondscheinnächten im Winter sprach, in denen
man nur das Rieseln des Schnees vernehme oder vom Harzduft, wenn man an
sonnigen Lichtungen unter den Bäumen im Erikagebüsch lag. Dann habe sie
gemeint, den Ton einer Weidenpfeife zu hören und zottige bocksfüßige Wesen
umhertollen zu sehen. Unwillkürlich erinnerte ich mich an des
Köhler-Michels Worte von dem landfremden Gesindel. Martin meinte etwas
spöttisch, soweit er sich aus der Schule entsinne, in der er freilich
nicht sehr weit gekommen sei, glaube man an solche Wesen im Süden, aber
nicht hier, worauf Agnes ernsthaft den Kopf schüttelte und meinte, das
gäbe es überall. Jetzt freilich, meinte sie mit einem liebevollen Vorwurf
zu ihrem Vater hin, halte dieser sie beständig davor zurück in den Wald zu
gehen, wiewohl sie schon bewiesen habe, daß sie nichts fürchte und im
Winter vor zwei Jahren mit eigener Hand einen Wolf erlegt habe, wovon der
Vater viel Rühmens gemacht hatte. Sie fürchte das Unheimliche nicht, wenn
man ihm entgegengehe, nur wenn man darauf warten solle, das zerre an den
Nerven. Es liege ihr viel besser, mit der Büchse draußen herumzustreifen,
als Strümpfe zu stopfen, und obwohl sonst die Mutter sie zu solcher
Tätigkeit angehalten habe, sei es jetzt der Vater, der sie beständig zu
häuslicher Arbeit veranlasse. Der Förster meinte, zum Walde gehöre der
Sonnenschein; in Nebel und Regen habe sie nichts draußen verloren. Martin
stimmte lebhaft zu und verwies auf die Sennen-Marie, die im Lande
aufgewachsen sei und doch in der vorletzten Nacht Weg und Steg verloren
habe, und indem man bei dieser Erinnerung angelangt war, senkte sich
Dumpfes und Trübes auf uns alle herab.
Martin schlug vor, um dieser Stimmung
auszuweichen, sie möchten doch ein zweistimmiges Lied singen, wie in alten
Zeiten. Es sei hier jetzt niemandem nach Singen zumute, sagte Agnes
abweisend. Es könne ja ein frommes Lied sein, meinte Martin und fügte
spöttisch hinzu, freilich müsse sie dann auf seine Mitwirkung verzichten,
denn in solchen Liedern sei er nicht zu Hause. Agnes schüttelte den Kopf;
als ich jedoch sehr darum bat, ließ sie sich bewegen und nahm die Laute
von der Wand. Sie ließ die Finger über die Saiten streichen und dann
begann sie mit ihrer dunklen Stimme, halb sprechend und halb singend jenes
Lied, von dem ich noch heute jedes Wort so genau weiß, als hätte ich es
nicht einmal, sondern oft und oft von ihr gehört:
Gesang des Erzengels
Maria, seit ich dir dein Glück verkündet.
Hat sich die Welt so seltsam mir gewendet,
Daß ich entgöttert stehe und geblendet
Von jenem Licht, das rings um dich entzündet!
O Leid der sündenlosen Seligkeit!
O Schmerz in lilienweißer Glut zu brennen!
Nur schimmernde Unendlichkeit zu kennen,
Die tränenlose — fern von Raum und Zeit!
Nie kann ein Schmerz zu unsrer Höhe dringen,
Den Namen «Mutter» nennt der Engel nie.
Ich schweb’ in eisesklarer Harmonie,
Maria — und muß singen! und muß singen!
«Das ist kein frommes Lied», versetzte der
Förster, als sie geendet hatte, «Dies Lied drückt die Sehnsucht eines
seligen Geistes nach einer ganz anderen Seligkeit aus, als sie ihm
beschieden ward. Dies ist ein Lied irdischer Sehnsucht.» Er erhob sich zum
Zeichen, daß es Zeit für uns alle sei, uns zur Ruhe zu begeben. Ich hatte
den Vorschlag machen wollen, ob man den Abend bis zur
kritischen Stunde nicht beisammen bleiben und so einander die
allgemeine Unruhe erleichtern wolle. Allein es schien niemand auf
Geselligkeit gestimmt zu sein, und so unterließ ich es. Ich nahm mir
jedoch vor, auf meinem Zimmer zu wachen. Allein das Licht schien trüb, an
Lesen oder Arbeit dabei war nicht zu denken. Draußen stand der Nebel in
dichten Schwaden. So legte ich mich in den Kleidern aufs Bett, nahm mir
vor, wach zu bleiben, hörte im Halbschlaf den Forstgehilfen in den
Nebenraum tappen und schlief dennoch ein.
Ich träumte, daß in der Höhe meiner Brust
ein weiter, eiserner Ring um mich schwebe, der jedoch immer enger zu
werden schien. Ich wollte mich bücken, um ihm zu entschlüpfen, da senkte
sich auch der Ring und schnellte wieder empor, als ich mich aufrichtete.
Immer enger schien er zu werden und mit Entsetzen sah ich den Augenblick
kommen, wo er meine Brust zusammenpressen würde. Schon spürte ich das
Eisen an meinem Körper, schon klemmte er mich zum Ersticken, da schrie ich
auf und erwachte. Aber ein viel fürchterlicherer Schrei antwortete von
draußen dem meinen. Es war wieder jenes entsetzliche Heulen, das ich schon
einmal vernommen, in das sich ein kurzes Geräusch wie ein Schuß mischte,
der es aber nicht zum Verstummen brachte. Mit zitternden Händen machte ich
Licht. Wieder hörte ich unten die aufjammernden Frauenstimmen, und ich
eilte hinab. Da fiel mir ein, daß ja noch ein Gefährte im Hause sei und
unwillkürlich machte ich vor Martins Kammer Halt und leuchtete hinein. Er
war nicht da. Sein Bett war zerwühlt, er aber war fort. Irgend etwas gab
mir einen Schlag aufs Herz. Verstört trat ich in die Wohnstube, wo ich die
beiden Frauen fand. Die Försterin hatte sich die Zeigefinger in die Ohren
gestopft, obgleich nichts mehr zu hören war und jammerte laut. Agnes
suchte sie zu beruhigen.
«Martin ist nicht da», sagte ich leise. Wir
wechselten einen Blick. Der gleiche Gedanke stand in unseren Augen
geschrieben. «Vielleicht hat er Dienst?» fragte ich weiter.
«In diesem Teil des Reviers besorgt der
Vater den Dienst allein», erwiderte das Mädchen. Wir schwiegen beide. Es
schien mir, als ob die Heiligenbilder von den Wänden höhnisch auf uns
niederblickten, und ich dachte daran, wie widerwillig der schwarzäugige
Bursche ihnen Ehrfurcht erwiesen hatte.
Nun ging die Tür draußen, und der Förster
kam aus dem Walde zurück. Schweigend trat er an das Kruzifix. Wir taten
desgleichen. Nie habe ich inbrünstiger gebetet, und es schien mir, als
täten es die anderen ebenso und als sei nie eine dichtere Wolke von
Andacht und Fürbitte zu der Gottheit emporgestiegen, die solche Dinge
geschehen ließ oder sie nicht hindern konnte.
Wieder lag ich oben lange wach. Angestrengt
wartete ich, ob mein Nachbar, an den ich jetzt nur mit Grauen dachte, den
Weg ins Haus zurück finden werde, aber ich hörte nichts. Durch das
kleine Fenster drang eisige Kälte von draußen, unwillkürlich kroch ich
tiefer in meine Decken und schließlich schlief ich
ein.
Am nächsten Morgen zeigte sich mir ein
zauberhaftes Bild. Der Wald war voll Schnee. Es war freilich nur leichter
Spätsommerschnee und er schmolz rasch, als die Sonne auf den bereiften
Christbäumen glitzerte. Zum ersten Male hörte ich die Vögel singen, was
ich hier bisher noch nie vernommen. Ein herbstlicher Tag von leuchtender
Klarheit stieg herauf, die Äste schimmerten in so tiefen Farben, und ein
solcher Perlmutterglanz lag über all der feuchten Frische, daß es mir
schien, als sei der erlebte Nachtspuk nur törichte Einbildung. Wie doch
ein bißchen Sonnenschein die Welt verändert! Ich beugte mich tief aus dem
Fenster, die Luft war kalt, rein und würzig. Und plötzlich stieg eine
Sehnsucht in mir, auf: Ich sah Agnes, wie sie sich mir am Tage vorher
dargestellt, schlank und mutig mit der Büchse in der Hand im Walde
umherstreifen. Die Büchse freilich brauchte jetzt just nicht dabei zu
sein. Ich wollte nur an ihrer Seite durch den Wald gehen und ihre dunkle
Stimme hören. Rasch ging ich hinunter. Auch das Wohnzimmer schien ganz
verändert vom Sonnenlicht, freilich sah man auch manche Abnützung besser,
welche die Zeit dem Hausrat zugefügt hatte. Diesmal brachte mir die
Försterin das Frühstück, was mich ein wenig enttäuschte. Diese Frau schien
auch vom Sonnenlicht nicht verändert. Sie bat um Entschuldigung, daß sie
keine frische Milch habe; seit ihre Ziege eingegangen sei, und hier oben
gehe ja alles ein, sei sie auf eine Bäuerin von der Alm angewiesen, die
aber, von den Gerüchten wohl erschreckt, ausgeblieben sei. Der Milchmangel
schien sie mehr zu bedrücken als alles sonstige Geschehen. Sie klagte über
das Dasein hier und sprach die Hoffnung aus, daß irgendein günstiges
Schicksal ihrer Tochter ein Leben in der Stadt bescheren möge. Ob sie das
nun gedankenlos gesagt hatte oder mütterliche Schlauheit sich darin
aussprach, weiß ich nicht, aber jedenfalls drückte sie Dinge aus, die
unaufhörlich in meinen Gedanken kreisten und das machte mir die sonst ein
wenig langweilige Frau sympathisch. Ich ging nun aus, Agnes zu suchen und
fand sie vor dem Hause, damit beschäftigt, Ranken aufzubinden. Nie hatte
sie mir so gefallen wie jetzt, wo ich sie zum ersten Male außerhalb des
Hauses sah, wie sie sich auf den Zehenspitzen reckte und biegsam mit den
Armen nach oben griff. Sie trug nicht die weite gebauschte Tracht, wie sie
in der Stadt Mode war und wie sie schlecht hierher gepaßt hätte, sondern
ein ganz schmuckloses Kleid aus grünem Stoff mit eingewirkten kleinen
Veilchensträußen, das sich lose und doch genau um ihre feine Gestalt
legte. Ich begrüßte sie und machte meinen Vorschlag. Ihre Hausarbeit werde
nicht darunter leiden, wenn sie einmal ein halbes Stündchen liegenbliebe.
Und ihr Vater werde gegen einen Spazier gang durch den Wald auch
nichts einzuwenden haben, jetzt, wo die Sonne
schien.
«Ja, sie scheint», sagte sie und sah mich
aus ihren dunkelumsäumten Augen an. «Aber tut sie es auch
für uns?»
Ich meinte, das täte die Sonne für
jeden.
Sie schüttelte den Kopf. «Sie lassen sich
von dem bißchen Geglitzer blenden — und müßten doch fühlen,
daß wir alle unter einem schweren Schicksal stehen, das mit
jedem Augenblick der Katastrophe näherrückt.»
So hatte ich sie noch nie gesehen, ich
kannte sie ernst, aber mutig. Nie hatte mich der
schicksalhafte Zug um ihre zusammengewachsenen Brauen so
berührt wie jetzt.
«Sie sollen jetzt gehen», fuhr sie fort.
«So lange hier alles voll Nebel war, schien es mir besser,
Sie zurückzuhalten. Jetzt aber gehen Sie — so rasch als
möglich.»
Ich wurde todtraurig. «Sie schicken mich
fort?»
Sie sah mich an. «Mir ist, als wäre Unheil
auf dem Wege — auch für Sie.
Ich kann nicht sagen, warum ich so fühle,
aber es hat sich oft schon gezeigt, daß mein dunkles
Empfinden klarer sah als mein Verstand.
«Agnes», sagte ich und wollte ihre Hand
fassen. Mir schien es, als könnte ich niemals mehr so zu ihr
sprechen wie in dieser Stunde.
In diesem Augenblick tauchte
der Förster aus dem Walde hervor. Nie war mir seine Gestalt
so hoch, dunkel und machtvoll erschienen. Mir war es, als hörten
die Vögel ringsum plötzlich zu zwitschern auf.
Agnes entzog mir ihre Hand und wandte sich
dem Vater zu. «Was ist?» fragte sie mit einem angstvollen
Blick in sein Gesicht.
Er sprach — und nie werde ich den
schicksalvollen Klang seiner Stimme vergessen: «Diesmal ist
es Martin gewesen.»
Agnes und ich tauschten einen Blick. Mir
war es selbst in dieser Stunde des Grauens lieb, ein
Einverständnis mit ihr zu haben. Aber der Förster hatte die
Bedeutung dieses Blickes erfaßt: «Nein, nicht der Täter ist er,
wie ihr glaubt — er ist das Opfer.»
Wir schwiegen erschüttert. «Am Wildbach»
fuhr der Förster fort, «er hat einen Schuß abgegeben — er
hat ihm nichts genützt. Die Kugel steckt in einem Baum. Nun
liegt er dort — wie die andern alle.» Er wandte sein Gesicht
ab, seine Bewegung zu verbergen.
In diesem Augenblick tauchte der
Forstinspektor auf, gefolgt von zwei Gendarmen. Er warf
einen Blick auf uns, die wir noch ohne Fassung dastanden,
schritt dann geraden und langsamen Schrittes heran, legte
mir die Hand auf die Schulter und sagte mit fester kalter Stimme:
«Der Herr ist verhaftet.»
IV.
Was nun geschah, das stürzte mit solcher
Plötzlichkeit und Verwirrung auf mich herab, daß ich Mühe habe, mich der
Einzelheiten zu entsinnen, doch weiß ich, daß der Förster sich mächtig vor
mir aufpflanzte und erklärte, ich sei sein werter Gast und er bürge für
meine Unschuld, wessen man mich auch beschuldigen möge. Dann fand auch ich
meine Sprache wieder und fragte, was ich denn eigentlich verbrochen haben
sollte. Das würde ich Gelegenheit haben auf dem Bezirksgericht unten zu
gestehen, meinte der Inspektor. Er habe vom ersten Augenblick an Verdacht
auf einen gehabt, der sich so grundlos in der Gegend aufhalte, und die
zwei Morde, die sich während meiner Anwesenheit im Forsthause in dessen
Umgebung zugetragen hätten, sprächen mancherlei. Was es mit den
zurückliegenden Geschehnissen für eine Bewandtnis habe, werde die
Untersuchung erweisen. Ich sagte, daß ich erst vor wenigen Tagen aus Wien
hierher gekommen sei, was mein Reisegefährte, den ich unten im Tal
zurückgelassen hatte, bestätigen könne Was aber die beiden Untaten der
allerletzten Zeit beträfe, so hätte ich in den fraglichen Nächten das
Forsthaus überhaupt nicht verlassen. Dies bestätigte auch der Förster,
aber der Inspektor fragte ihn, wieso er, der doch seine nächtlichen
Reviergänge täte, dies so genau wissen könne?
«Er ist unmittelbar nach dem Ertönen des
Schreies, kaum ein paar Minuten danach zu uns in die Stube gekommen»,
erklärte Agnes bleich und erregt. Der Inspektor meinte, man könne rasch
laufen, wenn man von der Angst gejagt werde, und was die Zeitangaben des
schönen Geschlechtes beträfe, so habe ihn seine Praxis gelehrt, daß dieses
zwischen ein paar Minuten und einer viertel oder halben Stunde keinen
Unterschied zu machen wisse. Ob denn jemand in der Zeit unmittelbar vor
dem Schrei bei mir gewesen sei? Ich sah einen leuchtenden und trotzigen
Blick in Agnes’ Augen treten und las auf ihren Lippen, wie sie die Lüge
formte: «Ich war bei ihm.» Aber bevor sie sie noch ausgesprochen, meinte
ihre Mutter, die aus dem Hause gekommen war, eilfertig, sie und ihre
Tochter hätten angekleidet in ihrer gemeinsamen Schlafstube gelegen und
ich wäre erst später zu ihnen heruntergekommen.
Ob denn die Haustür verriegelt gewesen sei,
fragte der Forstinspektor. Zumeist wohl, sagte sie, aber während der
Reviergänge des Försters würde dies nicht so streng gehandhabt, um ihm das
Ein- und Ausgehen zu erleichtern. Ob es somit nicht möglich gewesen wäre,
daß ich still und ungehört meine Kammer hätte verlassen können, wie dies
ja auch Martin aus irgendeinem unbekannten Grunde getan habe? Ja, meinte
die Försterin, möglich sei das schon gewesen. Ich staunte, wie
bereitwillig die gute Frau, die vielleicht noch vor einer halben Stunde
entschlossen gewesen war, ihren künftigen Schwiegersohn in mir zu
erblicken, ihre zwar wahrheitsgemäßen, aber für mich in dieser Form doch
belastenden Aussagen gab, und ich sah, wie ein unwilliger Blick des
Försters sie traf. Aber er prallte ab an ihrer Dummheit. Alles wäre mir
gleichgültig gewesen, wenn ich gewußt hätte, wie Agnes dachte. Sie stand
abgewandt, und ihre Haltung drückte den tiefsten Schmerz
aus.
«Vorwärts», sagte der Forstinspektor,
«unten vor dem Gericht wird sich alles zeigen.» Die Gendarmen nahmen mich
in ihre Mitte.
«Ich werde mir die Ehre geben, den Herrn zu
geleiten», sagte der Inspektor mit seiner kalten höhnischen Stimme. «Wenn
ich selbst auch lange die Version der Unfälle vertreten habe, so ist es
angesichts so wichtiger Tatsachen keine Schande, seine Meinung zu
ändern.»
Ich ging, ohne mich umzusehen. Ich wußte,
daß das Zeugnis meines Freundes meine Unschuld entscheidend darlegen mußte
und daß ich mir in aller Ruhe meine Argumente zurechtlegen würde. Dennoch
war fürchterlicher, als ich sagen kann, als Verbrecher von hier
fortgeführt zu werden, der ich als freiester Mensch hergekommen war.
Indessen sagte ich mir, daß jeder Widerstand meine Lage nur verschärfen
konnte. Auf unserem Wege trafen wir eine Gruppe von Holzarbeitern und
Köhlern, die aufgeregt das Unglück besprachen. Der alte Michel war unter
ihnen. Als er unsern traurigen Zug gewahrte, schien er zu begreifen. «Der
Teufel! Der Teufel!» zischte er mit einem Blick auf den Forstinspektor,
der sich ein wenig abseits hielt. Wie man mitten im grenzenlosesten Elend
oft auf das Unbeträchtlichste achtet, so mußte ich jetzt ein wenig darüber
lächeln, daß der alte Michel zwar die Existenz des Teufels leugnete, aber
doch kein anderes Wort wußte, wenn es galt, seinen Abscheu auszudrücken.
So waren sie alle hier im Walde: sie leugneten und
glaubten.
Nun ging es hinab inmitten des goldgrün
durchleuchteten Waldes, auf dessen Moos- und Nadelboden Goldkringel
zitterten. Die Tannen standen gegen den blauesten Himmel und eine
wundervoll harzige Kühle umduftete uns. Wie aber hätte ich mich dessen
freuen können! Der Weg hinab war steil und beträchtlich kürzer als jener,
den ich im Nebel irrend, im Zickzack herauf genommen hatte. Allmählich sah
ich Bekanntes wieder: wir kamen auf die Waldstraße, dann ins Freie, dann
tauchten der See und die ersten Häuser auf. Waren es wirklich nur drei
Tage, daß ich hier gewandert war? Es schienen mir ebensoviele Ewigkeiten.
Von dem, was nun geschah, sind in meinem Gedächtnis nur einzelne Momente
übriggeblieben. Ich weiß, daß ich unter Begleitung des halben Städtchens
in ein Amtsgebäude geführt wurde, daß ich zum ersten und letzten Male in
meinem Leben die Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle machte und daß man
mich schließlich im Beisein des Forstinspektors dem
Bezirksrichter vorführte, der mir wie ein Bruder des Inspektors schien,
obgleich er nicht die geringste körperliche Ähnlichkeit mit jenem aufwies.
Aber es war der gleiche kalte Amtsblick in beiden Gesichtern und es schien
mir, als ob die beiden Männer Ball mit mir spielten und mich einander
zuwürfen. Der Freund, auf dessen Zeugnis ich so sehr baute, hatte gleich
nach Empfang meiner Botschaft den Ort verlassen, vermutlich weil sein
Liebesabenteuer nicht die gewünschte Wendung genommen, und nicht
hinterlassen, wohin er sich zu begeben gedächte. Das war schlimm für mich,
denn wenn man ihn schließlich auch auffinden mußte, so konnte Zeit darüber
vergehen. Freilich blieb noch der Wirt, der aussagen konnte, daß ich bei
ihm genächtigt hatte. Doch das Betragen dieses wackeren Mannes, der zur
Zeugenaussage vorgeladen wurde, veränderte sich gewaltig, als er den
werten Gast in einen Angeklagten verwandelt fand. Ich sei allerdings vor
vier Tagen mit meinem Freund sehr bestaubt von einer Wanderung bei ihm
angelangt, aber ob ich wirklich direkt von Wien und aus der Linzer
Richtung gekommen sei, wie ich es angegeben, das könne er nicht wissen.
Verdächtig sei es ihm sofort gewesen, daß mich seine Warnungen,
Unsicherheit und Wetterlaunen betreffend, nicht hätten zurückhalten
können, und daß ich vor lauter Begierde, allein zu sein, meinen Freund im
Stich gelassen hätte. Diese Aussage wurde zu Protokoll genommen. Ich
wandte mich nun an den Richter und fragte ihn, was ich seiner Meinung nach
mit diesen Untaten denn eigentlich hätte bezwecken sollen? Alle Wertsachen
seien, wie festgestellt, bei den Opfern verblieben und mein eigener gut
gefüllter Säckel beweise doch zur Genüge, daß es mir um Bereicherung, den
gewöhnlichen Anlaß zu Mordtaten, nicht zu tun gewesen sein könne. Hier
unterbrach mich der Forstinspektor, der das Amtszimmer während meiner
Einvernahme keinen Augenblick verließ, und meinte: es würde sich im Laufe
der Verhandlung schon zeigen, wie ich zu dem gut gefüllten Säckel gekommen
sei. Ich würdigte ihn keiner Antwort und fragte den Richter, indem ich auf
meine schwachen Arme wies, ob diese wohl geeignet sein würden, Menschen
waffenlos zum Tode zu bringen? Wieder warf der Inspektor ein, es sei noch
kein großes Kraftstück, ein Mädchen wie die Sennen-Marie anzufallen und
was den Martin anbelangt, so habe seine Leiche den Eindruck gemacht, als
ob er sich erbittert gewehrt hätte; es sei aber bekannt, daß von Mordlust
befallene Menschen im Augenblicke ihrer Tat über Kräfte verfügten, die man
ihnen sonst niemals zutrauen könne. Ich fühlte, daß der Inspektor ein
besonderes Interesse daran haben mußte, mich als den Schuldigen
hinzustellen. Mir blieb nur übrig, mein eigenes Erlebnis bei meinem
Aufstieg in den Wald zu erzählen, und obgleich ich ahnte, wie es
aufgenommen werden würde, fragte ich, ob die Herren denn nie gehört
hätten, daß im Walde seltsame und unheimliche Dinge vor sich
gingen, an deren Erklärung menschlicher Scharfsinn scheitern
mußte.
Der Inspektor wollte wütend auffahren, aber
der Richter winkte ihm Ruhe zu und sagte zu mir in sachlichem Tone: «Wir
sind hier, um Sie zu hören. Erzählen Sie uns alles, wovon Sie glauben, daß
es zur Sache gehört.»
Das stärkte mein Vertrauen. Ich erzählte
von den Dingen, von denen der Wald voll war, an die ich selbst Glauben
hatte, denn ich hatte sie ja erlebt. Ich berichtete mit voller
Ausführlichkeit mein Abenteuer unter dem Felsen. Ich sprach lange, und es
schien mir, daß ich überzeugend gesprochen hätte; denn ich fühlte, daß ich
hier Ehrfurcht für das wecken mußte, woran irdische Vernunft zerschellte.
An dem Gesicht des Richters veränderte sich kein Zug. Als ich geendet
hatte und ihn erwartungsvoll ansah, sagte er: «Ich habe Sie ausreden
lassen, um zu sehen, wie weit die Schamlosigkeit geht, mit der ein Mensch,
der gute Schulen und sogar die Malerakademie absolviert hat, einem
akademisch gebildeten Mann seine törichten Märchen aufzutischen wagt. Ich
gestehe, daß dies alle meine Begriffe übersteigt. Nach Ihrer Art zu
sprechen, glaubte ich, auf eine gewisse Intelligenz bei Ihnen schließen zu
sollen. Diese Art, sich zu verantworten, zeugt nicht davon.»
«Die Intelligenz wird im Umgang mit dem
Köhler-Michel etwas gelitten haben,» warf der Inspektor ein, «denn dieser
alte Idiot war ja der Lieblingsumgang des Herrn!»
Diese hämischen Worte und die Erwähnung des
Köhler-Michel rückten plötzlich den Verdacht in unmittelbare Nähe, den der
Alte hatte durchschimmern lassen. Es war klar, daß hier ein Unschuldiger
büßen sollte. Und rasend vor Wut, meiner Sache fast gewiß, trat ich ganz
nahe an den Inspektor heran, blickte ihm tief in die Augen und rief: «Sie
selbst, Herr Inspektor, wissen wohl am besten, wer der Schuldige ist!» Der
Inspektor war erschrocken zurückgetreten, der Richter packte mich bei den
Fäusten und zog mich vom Inspektor weg, indem er sagte: «Es ist ein
Irrsinniger, ich habe es gleich gewußt.»
Er behielt mich scharf im Auge, ob ich
einen neuen Überfall plane und als ich dies nicht tat, sagte er, als ob
ich gar nicht im Zimmer gewesen wäre: «Es stimmt alles, die Phantasien,
der Blutrausch, die Gewalttätigkeit. Ein gefährlicher Verrückter. Wir
wollen ihn hier unter sicherem Verschluß behalten und mit dem nächsten
Sträflingstransport zur Stadt ins Narrenhaus schicken.»
Daß man mich für irrsinnig hielt, machte
mich völlig verzagt. Soviel begriff ich, daß es leichter ist, einer
Mordanklage Stand zu halten als seine gesunde Vernunft zu beweisen. So
erklärte ich möglichst ruhig, ich sei vollkommen klar; der Richter sagte
trocken, ich möchte dies beweisen, indem ich ernste Männer nicht zum
Narren hielte. Ich bekam noch einige Fragen vorgelegt, die ich
wahrheitsgemäß beantwortete, dann wurde ich in meine Zelle
abgeführt. Ein Haß schüttelte mich gegen meinen Verderber. Ich begriff den
alten Michel nur zu gut.
Wie oft ich im Verlauf dieser Zeit den Weg
von meiner Zelle zum Richter zurückgelegt habe, weiß ich nicht mehr, ich
weiß nur, daß der Inspektor, der in der Stadt Wohnung genommen hatte,
immer dabei war und mich mit seinen Fragen in die Enge zu treiben
trachtete. Ich erfuhr, daß ein Beamter aufs Forsthaus geschickt worden
war, um die Aussage des Försters aufzunehmen, der sein Revier nicht
verlassen durfte und daß diese zu meinen Gunsten ausgefallen war. Dagegen
erschienen die Försterin und Agnes persönlich im Amtsgebäude um
auszusagen. Die Försterin tat es, wie sie es schon vorher getan, ohne mich
zu beschuldigen, aber auch ohne mich zu entlasten, und starrte mir dabei
neugierig ins Gesicht. Agnes dagegen sagte vollkommend entlastend für mich
aus, was von Seiten des Inspektors ein paar höhnische Zwischenbemerkungen
zur Folge hatte. Sie sah sehr bleich, fast aschfarben aus, ihre
geschmeidige Gestalt schien wie zerbrochen. Das tat mir weh und doch wohl,
denn ich konnte es als Zeichen des Schmerzes um mich deuten; wenn sie mir
nur hätte in die Augen sehen wollen, allein das vermied sie voll Angst. Es
wurden noch ein paar Köhler und Holzfäller vernommen, die mich zu
verdächtigen suchten, den gesehen oder nicht gesehen haben wollten, und
jede Aussage sorgsam aufgezeichnet. Wie lange diese Zeit gewährt hat, ob
Tage oder Wochen, vermöchte ich nicht zu sagen; ich war stumpf und wie
ausgelöscht. In meinem Innern sagte mir etwas, daß ich aus dieser Prüfung
heil hervorgehen solle, aber wie lange sie währen und was ich bezahlen
mußte, wußte ich nicht. Lag die Stadt im Sonnenschein, umhüllte sie Nebel?
Mir konnte es gleichgültig sein. Einmal hörte ich ein Prasseln von dichten
Tropfen an meinem hochgelegenen Zellenfenster. Ich dachte: es regnet; es
regnet schon wieder. Aber es schien mir, als könne ich mir kein Bild mehr
davon machen. Dann, ich hatte jede Hoffnung auf eine rasche Wendung
aufgegeben, ereignete sich etwas Überraschendes. Der Wärter hatte mir eben
meine Abendsuppe hereingebracht, und ich verzehrte sie, auf meiner
Pritsche sitzend ohne Hunger, nur um nicht von Kräften zu kommen, als ein
Schlüssel sich im Schloß drehte. Die Riegel wurden zurückgeschoben, zwei
Gendarmen traten ein und stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf. Sie
salutierten, und der eine sagte respektvoll: «Der Herr möchte sich zum
Herrn Bezirksrichter hinüberbemühen. Der Herr ist
frei.»
V.
Drüben fand ich den Richter und den
Inspektor, beide mit tiefernsten erregten Gesichtern. Sie streckten mir
die Hände entgegen. Die des Inspektors übersah ich, aber der Richter
ergriff die meine und schüttelte sie.
«Wir haben Sie um Entschuldigung zu
bitten,» sagte er, «Ihre Unschuld ist erwiesen.»
«So hat man meinen Freund aufgefunden?»
fragte ich erfreut, denn ich bildete mir ein, nur von da könne Erlösung
kommen.
«Das nicht», sagte der Richter. «Aber
während Sie hier in sicherem Gewahrsam saßen, ist heute Nacht droben im
Walde wieder die gleiche Tat unter den gleichen Umständen
geschehen.»
Ich fuhr zusammen und richtete meinen Blick
auf den Inspektor. Noch gestern abend war er bei einem Verhör anwesend
gewesen. Die Wanduhr hatte, ich erinnerte mich dessen genau, eine
auffallend späte Stunde gezeigt. Der Richter hatte ihm, ich hatte es
deutlich gehört, zugeflüstert, daß sie nachher noch auf einen Schoppen ins
Wirtshaus gehen wollten. Selbst wenn der Inspektor mehr als natürliche
Fähigkeiten besaß, hätte er nicht mehr um Mitternacht das viele Stunden
entfernte Waldrevier erreichen können. So war also auch er nicht der
Täter? «Wir müssen unser Bedauern aussprechen», wiederholte der Richter.
«Es schien mir gleich, als ob die Beweiskette nicht lückenlos schließe.
Aber da der Verdacht bestand, mußten wir Sie festhalten, und
Sie müssen selbst zugeben, daß Ihr Betragen und Ihre Verantwortung zu
Anfang sonderbar genug waren. Ich schiebe das Ihrer Aufregung zu. Von
diesem Augenblick an sind Sie frei.»
Ich verbeugte mich «Sie werden wohl jetzt
gleich abreisen?» fragte der Richter.
«Ich möchte noch einmal hinauf, meine
Sachen holen», sagte ich und hatte dabei nur den Wunsch Agnes
wiederzusehen. Plötzlich faßte eine unbestimmte Angst mich an der Kehle
und ich stieß hervor. «Wer war diesmal das Opfer?»
«Der alte Köhler-Michel hat dran glauben
müssen», sagte der Richter ernst.
«So haben auch ihn seine Götter nicht
geschützt,» sagte ich vor mich hin, «und doch war er der Wissendste von
allen. Welcher Gott schützt eigentlich? Wo ist überhaupt Schutz für
Menschen?» Es war mir weh um den alten Mann. Und doch war ich erleichtert,
daß nur er es gewesen war. «Ich will hinauf», sagte ich.
Der Forstinspektor trat zu mir. «Ich habe
den Herrn verhaften lassen, ich werde mir erlauben, ihn wieder mit allen
Ehren hinaufzugeleiten. Die Behörde ist gerecht. Ich kenne meine
Pflicht.»
Die Gesellschaft des Inspektors war mir
keineswegs angenehm, aber ich sah keine Möglichkeit, sie
zurückzuweisen.
«Dann gehen wir», sagte ich
kurz.
Der Richter hielt mich ab. «Es ist Abend»,
sagte er, «und es wäre tiefe Nacht, bis Sie hinaufkämen. Solche
Spaziergänge empfehlen sich jetzt nicht sonderlich, ehe wir die richtige
Fährte gefunden haben. Wenn Sie nicht im Gasthof nächtigen wollen — und
ich kann begreifen, daß Sie für den Wirt keine besondere Vorliebe haben —
so biete ich Ihnen eine bescheidene Unterkunft in meinem Hause an. Morgen
früh können Sie dann beide heimgehen.»
So geschah es auch. Am Morgen
verabschiedete ich mich von dem Richter. Der Inspektor wartete schon auf
mich. Wir gingen schweigend den nun schon wohlbekannten Weg an den letzten
Häusern vorbei, den See entlang, bis die Waldstraße uns aufnahm.
«Sonderbar», dachte ich, «da gehen wir beiden Todfeinde nun friedlich
nebeneinander her, er hat mich für den Schuldigen gehalten, ich ihn, und
keiner ist es gewesen. Was ist das für ein seltsames und furchtbares
Verhängnis, das alle Menschen ihren Verdacht aufeinander werfen läßt und
von jedem vermutet, daß ein wildes Tier in ihm
lauere!»
«Der Herr ist schweigsam», sagte der
Inspektor nach einer Weile. Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch und
schwieg verächtlich. «Sie grollen mir», sagte er, «und ich kann es
verstehen, denn ich habe Ihnen Übles zugefügt, wenn es auch nur zwei Tage
gedauert hat. Dennoch wäre es vielleicht nicht überflüssig für Sie, auch
einmal einen Menschen in meiner Lage zu begreifen. Das kann vieles
entschuldigen. Ich bin hier
von der Regierung sozusagen zum Herrscher
von Menschen gesetzt, die nicht zu beherrschen sind — auch nicht, wo es
ihr Bestes gilt. Ein finsterer Geist in diesem Wald. Vor kurzem war ich in
einem Revier im Flachlande an der Donau. Eine große Handelsstraße ging
durch, Schiffe legten an, Menschen waren lebendig, auf ihren Vorteil
bedacht, allem Neuen zugänglich. Es lebte sich leicht mit ihnen. Das ist
hier nicht der Fall. Sie haben es selbst erlebt, welche Mühe es kostet,
einen Köhler dazu zu bringen, daß sein Meiler nicht nach allen Seiten
Feuer stiebt. In einem dürren Jahr würde uns der ganze Wald niederbrennen.
Ich kontrolliere scharf, ich habe meine besondere Art, ganz überraschend
aufzutauchen …»
«Ich habe es bemerkt», warf ich
ein.
«… aber kaum habe ich den Rücken gewendet,
so geht es weiter in der alten Art. Sie erfüllen die Welt mit ihren
Schauergeschichten, weil das bequemer ist, als eine eigene Verantwortung
zu tragen und sehen darüber die Wirklichkeit nicht. Sonst hätten sie den
Täter längst. Wenn jeder mithelfen wollte, wäre er uns nicht entgangen.
Die ersten Fälle, die Städter betrafen, mochten Zufälle sein, und die Art
ihrer Auffindung ist wohl später hinzugedichtet worden. Mit der Zeit aber
verengte sich das Gebiet und schließlich beschränkte es sich auf unser
Revier, wo es keine Fremden gibt, nur Menschen, die es genau kennen. Hier
mußte der Täter sein, wollte ich seiner aber habhaft werden, so mußte ich
meine Arglosigkeit betonen. Sie werden mein Mißtrauen begreifen, als eines
Tages ein Fremder so ganz grundlos auftauchte und blieb. Ich bin für die
Sicherheit verantwortlich, Herr. Wir sind die Behörde. Auf wen soll man
sich denn verlassen, wenn nicht auf uns?»
«Ich begreife Ihre gottähnliche Stellung
vollkommen, Herr Inspektor», sagte ich, «aber ich bedaure in Ihrem
Interesse, daß sie nicht mit Allwissenheit verbunden ist. Aber glauben Sie
wirklich und ernsthaft — jetzt, wo wir außerhalb des Gerichtes sind,
können wir uns ja gestehen — daß es nicht in der Welt dunklere Mächte
gibt?»
«Die Behörde kennt keine dunklen Mächte,
Herr», schrie der Inspektor und bekam einen zornroten Kopf wie in früheren
Zeiten. Dann besann er sich aber, daß er mir ein sanftes Betragen schuldig
war, und sagte mit einem Seufzer: «Wenn man solche Dinge von aufgeklärten
und gebildeten Städtern hört, dann darf man sich über die Dummheit des
Waldvolks wirklich nicht mehr wundern.»
Von da ab sprachen wir nur das Nötigste.
Wir fühlten, daß wir uns nicht verstehen konnten. Auch war der Weg steil
und die Nebel beklemmten die Brust. Hier und da begegneten uns ein paar
Holzfäller, und dann richtete der Inspektor laut und in jovialem Tone eine
freundschaftliche Bemerkung an mich, auf daß jeder sehen könnte, daß ich
wieder in allen Ehren in die menschliche Gesellschaft aufgenommen war. Als
wir auf der Höhe angekommen waren, verabschiedete ich mich.
Mit fliegenden Schritten
eilte ich dem Forsthause zu. Ich sah Agnes am Fenster sitzen, wie ich sie
schon einmal gesehen, eine Arbeit in der Hand, doch aus düstern Augen ins
Leere starrend. Als ich eintrat, lächelte sie mir mit blassen Lippen zu,
doch es war ein Lächeln ohne Freude. Dieses Gesicht sah aus, als ob nie
mehr Freude darauf leuchten könne und ich erkannte mit tiefstem Schmerz,
daß es auch mir nicht gegeben war, ihr solche zu
bringen.
«Warum sind Sie wiedergekommen?» fragte
sie. «Gehen Sie — ich bitte Sie um alles. Es wird jetzt dunkel hier oben
werden. Sie müssen mit versprechen, daß Sie gehen», wiederholte sie und
hob bittend beide Hände. «Jetzt gleich — noch in dieser
Stunde.»
Ich fragte nach dem Förster. «Er ist im
Dienst», sagte sie. «Halten Sie sich nicht auf — gehen
Sie.»
«Agnes!» bat ich. «Darf ich Ihnen
wenigstens schreiben?»
Sie lächelte blaß. «Das dürfen Sie. Aber —
ob ich Ihnen antworten kann, weiß ich nicht.»
«Noch diese Nacht lassen Sie mich hier
sein!» bat ich. Sie schüttelte den Kopf. «Keine Stunde länger! Wissen Sie,
wie es ist», fuhr sie plötzlich leise fort, «wenn, man einen eisernen Ring
um sich schweben fühlt, er wird immer enger, man möchte ihm entrinnen und
kann nicht, und schließlich preßt er einem die Brust zusammen bis man
erstickt?»
Ich starrte sie an. Das war ja mein Traum
gewesen. Hatte sie ihn auch geträumt?
«Ich war beim Köhler-Michel», fuhr sie
fort, «wenige Stunden vor seinem Tode. Ich habe mir alte Geschichten von
ihm erzählen lassen. Ich kannte sie alle schon — aber es ist mir nun ganz
klar geworden, was ist und was zu geschehen hat. Und nun geben Sie!» bat
sie und reichte mir ihre schmale kühle Hand. «Und haben Sie Dank — für
alles.»
Ich drückte heftig ihre Hand. Aber es stand
ganz fest bei mir, daß ich ihren Wunsch nicht erfüllen würde. Ich würde
gehen — zum Schein. Aber diese Nacht wollte ich im Walde verbringen. Ich
mußte dem Geheimnisvollen entgegengehen. Vielleicht konnte ich ihr am
nächsten Morgen Beruhigung bringen. Ich mußte sie um jeden Preis noch
einmal wiedersehen. Ich begab mich auf mein Zimmer und schnürte mein
Ränzel, dann verließ ich das Haus. Sie stand nicht mehr am Fenster. Ich
ging bergaufwärts zur Almkapelle, wo, wie ich wußte, die Toten des Waldes
eingesegnet wurden. Ein alter, als Einsiedler lebender Kapuziner besorgte
das und las sonntags auch die Messe. Die hohe Geistlichkeit kam nur zu den
großen Festtagen herauf. Rings um die Kapelle war der einfache Friedhof
angelegt. Der Totengräber schaufelte eben ein frisches Grab zu. Es war das
des Köhler-Michel, der am Morgen bestattet worden war. Ich trat heran und
verrichtete ein stilles Gebet. «Das sind alles Opfer», sagte der
Totengräber und wies auf eine Reihe frischer Gräber an der Mauer. «Und sie
liegen ein wenig abseits, weil unser Herr Kapuziner doch
nicht ganz sicher ist, daß sie eines völlig christlichen
Todes gestorben sind.»
«Wie hat es gerade den Michel treffen
können?» fragte ich. «Er wußte doch am meisten von
allen.»
«Er war übermütig geworden, Herr! Er
frohlockte: nun ist der böse Feind fort — nun ist er im Tale
von Amts wegen! Und als er nachts ein wenig Holz stehlen
ging, was er öfter tat, da hat er seinen Drudenfuß daheim
gelassen, von dem er sich sonst nie trennte. Da hat’s ihn
getroffen.»
Ich wandte mich zum Wald zurück und
überlegte, wo ich die Zeit bis Mitternacht wohl verbringen
könnte. Mir fiel die Hütte des alten Michel ein, die jetzt
wohl leer stand. In der Tat war die Tür nur angelehnt; der wenige
Hausrat war schon weggeschafft worden.
Ich richtete mich ein so gut ich konnte,
holte das Päckchen mit Proviant aus dem Ränzel, das mir der
Richter am Morgen fürsorglich mitgegeben hatte, und breitete
meinen Mantel auf dem Boden aus. Ich wollte schlafen.
Die Stunde, die kam, sollte mich dann im
Vollbesitz meiner Kräfte finden.
Der Sturm, der rings um die Hütte pfiff,
weckte mich auf. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Die
Nacht war seltsam, sternenhell, und doch jagten beständig
Wolken und Nebelfetzen knapp über den Bäumen vorüber. Ich
hatte dergleichen noch nie gesehen. Der Wind warf mich fast
zurück, als ich aus der Hütte trat. An der Tür hing noch der
eiserne Drudenfuß. Ich steckte ihn an meine
Brust.
Mühsam ging ich vorwärts. Meine Haare
flogen, der Mantel wehte. Ich wußte, wem ich begegnen
wollte, aber nicht, wo ich ihn finden würde.
Das Revier war groß. Aber mir war es, als
müsse mich ein innerer Sinn leiten. Fühlte ich mich, schwach
und waffenlos, wie ich war, stark genug, der Gefahr
gegenüberzutreten, so mußte mich auch mein Gefühl dahin
ühren, wo ich mich ihr stellen konnte.
So trieb ich mich unter den ächzenden
Tannen eine lange Weile ruhelos hin und her. Endlich kam
ich, auf eine Stelle, die ich wohl kannte und von der ich
wußte, daß sie im Volke der Tanzplatz hieß. Es war ein
runder freier Platz mitten im Walde, ein paar niedrige Felsblöcke
lagen verstreut darauf herum. Ich blieb stehen. Noch einmal
heulte der Sturm, daß die Bäume sich bogen, dann schien er
plötzlich zu schweigen.
Von der andern Seite sah ich eine Gestalt
herankommen, eine Frau. Im Sternenschein konnte ich sie
deutlich erkennen. Es war Agnes. Sie ging langsam, gerade
vor sich hin, wie eine Nachtwandlerin, ihre Augen standen
offen, aber sie sah mich nicht. Sie stieg auf einen Felsblock und
stand da mit ausgebreiteten Armen, als warte sie auf etwas. Sie sah
aus, als hinge sie am Kreuz.
«Agnes!» rief ich, aber der Ton meiner
Stimme klang nicht bis über den Platz zu ihr, und ihr Ohr
war einer Menschenstimme in diesem Augen blick wohl auch
verschlossen. Sie stand, den Oberkörper zurückgebeugt, den Kopf
emporgewandt, mit blassen Lippen lächelnd. Sie sah aus, wie jemand, der
sagt: ich bin bereit.
Da hörte ich ein Knacken im Gebüsch, knapp
neben mir, jenes unheimliche Knacken, das ich schon einmal vernommen. Ein
riesiges Tier sprang in schweren Sätzen heraus. Agnes sah es heranstürmen.
Sie blieb stehen und lächelte. Das Tier sprang sie an und stürzte sie
rücklings herab. Dann aber hörte ich einen Schrei, und es war nicht mehr
das schauerliche Geheul des Tieres, wie ich es kannte, sondern ein Schrei
aus menschlicher Brust, wie ich ihn nie vernommen. Von der Leiche des
Mädchens erhob sich ihr Vater, der Förster; er hob die Arme in die Luft,
er schien bis in den Himmel zu wachsen, und der schaurige Schrei der
Verzweiflung gellte noch immer aus seiner Brust.
Und es schien mir plötzlich, als halle der
Schrei im Walde tausendfältig wieder, ein ungeheures Brausen erhob sich
ringsum, und ein Sturm setzte ein, wie ich ihn nie erlebt. Bäume
splitterten rings um mich nieder, Wolken jagten knapp am Boden vorüber,
alles verhüllend, und ich sah Gestalten in den Wolken, die die Arme
ausstreckten. Mit ungeheurer Gewalt rissen diese Riesenarme den Förster zu
sich empor und hoben den Leichnam des Mädchens hinauf. Sie jagten weiter,
mein Atem verging im Nebel, und der Sturm warf mich zu Boden. Ich weiß
nicht, wie lange ich so gelegen, habe. Als ich zu mir kam, heulte der Wind
noch immer, aber die Nebel waren durchsichtiger geworden und zogen
allmählich vorüber. Nun schienen die Sterne wieder auf den verwüsteten
Platz, über dem quer Baumstämme lagen und der mit abgebrochenen Ästen
bedeckt war. Ich kroch an den Fuß des Felsens, um zu sehen, ob dort noch
eine Spur von Agnes geblieben wäre. Ich fand, ein Fetzchen von ihrem
Kleide, das im Heidelbeergebüsch hängen geblieben war. Ich kannte den
grünen Stoff mit den Veilchen wohl. Hätte ich ihn nicht in den Händen
gehalten, ich hätte dies ganze Erlebnis für einen wilden Traum halten
müssen. Ich senkte meinen Kopf auf das kleine Stückchen Stoff und weinte.
Als ich es mit zitternden Händen in meiner Brusttasche bergen wollte,
entriß es mir ein Windstoß und wirbelte es fort. Ich fand es nicht
wieder.
Dann erst kam das Entsetzen über mich. Ich
raste im Walde umher und schrie. Es schien mir, als müsse mein Geschrei
das Heulen des Windes übertönen. Ich lief zu den Holzfäller- und
Köhlerhütten, die ich kannte und flehte die Leute an, herauszukommen, es
wäre Unheil geschehen. Drinnen hörte ich die Frauen aufkreischen, ich
hörte Gebete murmeln und Riegel vorschieben. Einer von ihnen öffnete mir
endlich, ein junger kräftiger Mensch; ich beschwor ihn, mit mir
hinauszukommen. Er sah mich mit einem scheuen Blick an und sagte: «He,
wissen Sie nicht, was im Walde vorgeht?» Dann schlug er mir
die Tür vor der Nase zu. Ich weiß noch heute, daß ein Kreuz und ein
Drudenfuß friedlich nebeneinander auf ihr eingeschnitten waren; er wußte
eben nicht welcher Schutz sicherer war. Keiner konnte hier helfen, ich
wußte es. Dennoch sehnt sich der Mensch in höchster Not nach Menschennähe.
Ich irrte umher, ich rief, ich flehte um einen Menschen. Da rief mich eine
Stimme an; es war der Forstinspektor. «Es ist gut, daß Sie da sind», sagte
er. «Einer muß mit mir kommen. Die anderen sind feige und fürchten die
Nacht. Ich weiß, wer es ist — seit zwei Tagen weiß ich es mit
Bestimmtheit. Es ist der Förster.»
Ich schwieg.
«Ich habe diesem frommen Heuchler nie
getraut», fuhr er fort. «Aber der Mann schien seine Pflicht leidlich zu
tun, es war nicht gegen ihn anzukommen. Er war länger hier als ich, er ist
von einem hohen Herrn der Regierung hierher empfohlen. Er soll aus
vornehmem Hause sein und war früher etwas Bedeutendes in der Welt draußen,
wurde mir gesagt, was, das weiß ich nicht. Die Behörde hat Rücksichten zu
nehmen. Nun aber ist der Augenblick gekommen, ihn zu
fassen.»
«Sie werden ihn nicht mehr fassen», sagte
ich. Er sah mich an. «Er ist in einer Welt, in der ihn keine Behörde mehr
fassen kann», fuhr ich fort. «Sie werden mir nicht glauben, aber ich habe
es erlebt.» Und ich erzählte alles.
«Herr, Sie haben Fieber», sagte der
Inspektor. «Aber wenn ich von Ihrer Phantastik absehe, die mir leider
schon bekannt ist, und von der unwahrscheinlichen Geschichte mit dem
Mädchen, so bleibt doch übrig, daß Sie meinen Verdacht teilen. Er kann
noch nicht weit von hier sein. Wir müssen suchen.»
Der Sturm hatte nachgelassen und der
Inspektor konnte seine Laterne anzünden. Wir suchten das Revier ab. Wir
kamen wiederholt an die Stelle, auf der sich alles zugetragen hatte. Wir
fanden nichts. Wie hätten wir auch etwas finden
sollen?
«Man muß die Frau und die Tochter zunächst
vernehmen», meinte der Inspektor und richtete seine Schritte gegen die
Försterei.
«Ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie die
Tochter nicht mehr vernehmen können!» rief ich. Er schüttelte ungläubig
den Kopf.
Der Morgen kroch fahl herauf. Um das
Försterhaus herum lief jammernd und halb erfroren die Försterin und rief
den Namen ihrer Tochter. Während sie wie immer in solchen Nächten
angekleidet auf ihren Betten gelegen hatten und sie ein wenig eingenickt
sei, wäre das Mädchen entwichen. Erst als sie von dem Schrei erwachte,
entdeckte sie, daß Agnes fort war. Nun wisse sie, daß sie diesmal das
Opfer geworden sei. Auch ihr Gatte sei nicht heimgekehrt wie sonst. Alles
Unheil stürze auf ihr Haus herab. Wir konnten der armen Frau keinen Trost
geben, wir konnten ihr nur sagen, daß wir nichts gefunden hätten, was sie
zu beruhigen schien.
Der Inspektor meinte, daß nach seiner
Überzeugung Agnes in einer der Waldhütten Schutz vor dem Sturm gesucht
habe. Aber, fügte er hinzu, während er sie ins Haus führte, auf etwas
Schwereres müsse er sie vorbereiten. Sie müsse im Namen Gottes aussagen,
was sie wisse. Denn ihr Mann stehe in dem dringenden Verdacht, Schuld an
all dem furchtbaren Unheil zu sein.
Die Frau jammerte auf. Nein, ihr Mann sei
ein guter Mann, ein frommer Mann, und er sei es gewiß nicht gewesen.
Freilich, fuhr sie in ihrer törichten Art fort, hätte gerade seine düstere
Frömmigkeit sie oft erschreckt. Zuweilen wäre er wie aus finsteren Träumen
aufgefahren und hätte ihr zugeschrien: Bete! und sie hätte nicht gewußt,
warum und wofür. Ob ihr Gatte stets bei Sinnen gewesen wäre, fragte der
Inspektor. Jawohl, das sei er immer gewesen, obgleich er Zeiten gehabt
hätte, in denen er sehr seltsam gewesen sei. Die genauen Daten könne sie
freilich nicht mehr angeben, aber sonderbare Gedanken hätten oft sein Hirn
durchkreuzt. So habe er sie vor Jahren einmal gefragt, ob sie sich nicht
ferner, urferner Zeiten entsinne? Sie aber hätte sich nur bis in ihr
drittes Jahr erinnern können und von einem Schäfchen erzählt, vor dem sie
sich damals sehr gefürchtet hätte. Da sei er ganz zornig geworden, dem so
hatte er es nicht gemeint. Dann habe er sich zuweilen mit den Händen an
die Schläfen gegriffen und sei im Zimmer auf und ab gelaufen, wie einer,
der sich an etwas erinnern wolle und nicht könne. Namentlich in diesem
Sommer sei er seltsam geworden, manche Tage ganz verfallen und dann wieder
so mächtig von Gestalt wie in seinen jungen Jahren, als sie sich in ihn
verliebt hatte. Aber er wäre immer ein guter Mann gewesen. Allerdings
hätten sie sich durch sein wunderliches Wesen voneinander entfernt; Agnes
dagegen habe ihren Vater viel besser verstanden. Wenn Agnes käme, könnte
sie vielleicht Dinge erklären, für die sie, die Försterin, zu töricht sei.
Ich wandte mich schmerzvoll ab. Agnes, das wußte ich, kam nicht wieder.
Der Inspektor hatte sich Notizen gemacht. Nun empfahl er der Frau, ein,
wenig zu ruhen. Der Morgen würde Klarheit bringen. Ich erbot mich, zu
bleiben. Sie legte sich erschöpft auf ihr Bett. Ich ging in meine alte
Kammer hinauf und sah zu, wie es über dem Walde Tag
wurde.
VI.
Nun zogen Herbsttage von so goldener
Klarheit herauf, wie ich schon einen erlebt, ich sah sie mit den Augen,
aber mein zerrissenes Gemüt fühlte sie nicht mehr. Alles geschah, was von
Amts wegen geschehen mußte. Der Richter kam in eigener Person herauf, um
den Tatort zu besichtigen und die Försterin zu vernehmen. Es war klar, daß
die Frau vollkommen ahnungslos war, und um all das Geschehen nichts
wußte.
Nicht so sicher stand es seiner Meinung
nach um Agnes. Namentlich der plötzliche Tod Martins belastete sie, so
fand er. Ich erzählte nochmals, was ich erlebt hatte. Er hatte nur ein
Lächeln dafür. Nach seiner Überzeugung hatten der Förster und seine
Tochter das Weite gesucht. Die Behörde würde sie zu finden wissen. Die
Behörde fand sie nie.
Ich blieb noch so lange, bis ich Gewißheit
über das fernere Schicksal der Försterin hatte, der ich mich bis zu einem
gewissen Grade verbunden fühlte. Ihr Bruder, ein Handelsherr aus Augsburg,
den man sofort von dem Verschwinden des Försters und seiner Tochter
verständigt hatte, holte sie zu sich. Als sie fort war, war auch meine
Abschiedsstunde gekommen. Alle, die ich gekannt, waren von einem
furchtbaren Verhängnis niedergemäht worden. Nur der Forstinspektor war
noch hier, aber ich fand ihn in sehr gedrückter Stimmung. Die Regierung
hatte ihm ihre schärfste Mißbilligung darüber ausgesprochen, daß es ihm
nicht gelungen war, die Vorgänge aufzuklären. Nun würde er wohl in eine
untergeordnete Stellung versetzt werden. Die Versetzung freilich schmerze
ihn am wenigsten. Er habe selbst gefühlt, daß er hierher nicht tauge. Er
bat mich noch, zu bestätigen, falls ich von der Regierung aus gefragt
würde, daß er seine Pflicht stets auf das genaueste erfüllt habe. Das
konnte ich ihm versprechen. Es hat mich aber nie jemand
gefragt
Ich bin dann zu Fuß heimgewandert, erst
nach Linz und dann donauabwärts nach Wien. Ich brauchte viele einsame
Tagemärsche, um mich zu fassen und das Geschehene zu überdenken, auf daß
ich mit ruhigem Gesicht den Meinigen gegenübertreten konnte. Ich bin, so
scheint es mir, an manchem Schönen vorbeigekommen, an wunderlichen
Flußkrümmungen, an verfallenen Burgen und traubenbeschwerten Weinbergen,
aber ich habe nichts Rechtes mehr erfaßt und gesehen. Meine Mutter meinte,
ich sähe übel aus, blasser und schmaler als da ich ausgezogen sei. Ich
schob es auf den vielen Regen und erzählte nur, ich sei längere Zeit in
einem Försterhause geblieben, wo ich in bezug auf Essen und Wohnung ganz
gut aufgehoben gewesen sei. Damit war meine Mutter beruhigt. Bald nach mir
kam mein Reisegefährte zurück, der seinen Liebeskummer erfolgreich im
Salzburger Peterskeller ertränkt hatte. Er hatte wohl von seltsamen
Vorfällen in den Bergen, auch beiläufig von der irrtümlichen Verhaftung
eines Wieners gehört, aber nach seiner Art hatte er sich für das, was ihn
nicht unmittelbar betraf, nicht interessiert.
Ich habe dann noch viele Jahre gelebt, aber
es scheint mir, als sei mein eigentlichstes Erleben mit jenem Ereignis
abgeschlossen gewesen. In die Wälder bin ich nie mehr gekommen, wiewohl
mit der Zeit Eisenbahn und bessere Wege das Reisen erleichtert hatten.
Aber es schien mir, als müßten die Wesen, die den Wald
beleben, vor solcher Menschenherrschaft die Flucht ergreifen. Wohin haben
sich die ganz Vertriebenen nun gewandt? Die Natur schien mir nichts mehr
ohne sie, und doch hätte ich nicht mehr die Kraft gehabt, ihnen zu
begegnen. Ich habe weiter gemalt, erst noch mit Erfolg, dann aber mit
stetig abnehmendem, denn die Miniatüre kam aus der Mode, und als es auf
das Jahr achtundvierzig zuging, wollte niemand mehr etwas von
Heiligenbildern wissen. Vor kurzem erst habe ich ein Madonnenbildchen von
mir, sehr zerkratzt und abgeschunden bei einem Antiquar wiedergefunden,
der es mir um den Wert des Elfenbeinplättchens abließ. Mein Onkel, jetzt
schon sehr alt, meinte triumphierend, er habe gleich gewußt, daß es mit
der Spielerei auf die Dauer nicht gehen werde, und er nahm mich als
Zeichner in sein Geschäft. Da ich nun schon in die Jahre kam und nach dem
Tode meiner Mutter einsam war, habe ich geheiratet. Sie hieß Barbara und
war auch gut, ich wüßte nichts von ihr zu sagen, als daß sie mir immer ein
braves Weib gewesen ist. Sie war fromm, glaubte an Gott und den Teufel,
weil sie es in der Kirche so gehört hatte, aber wenn ich versuchte, ihr
von dem Dunklen zu sprechen, das sich hinter dem Glauben und neben ihm
verbirgt, sah sie mich erstaunt an und verstand mich nicht. Meine Kinder
aber glaubten überhaupt nichts mehr, sie waren Geschöpfe einer Zeit, die
sich der Freiheit, Erkenntnis und Aufklärung rühmte, und wenn ein Ungemach
sie traf, so klagten sie über Ungerechtigkeit des Schicksals, obgleich sie
niemanden über sich anerkannten, der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit zu
üben hatte. Sie waren aber alle erfolgreich im Leben, erfolgreicher als
ich, und heute geben sie dem alten Vater das Gnadenbrot. Es ist inzwischen
Herbst geworden, ich habe viele Nächte mit zitternden Fingern geschrieben,
denn es geht recht langsam, und es will mir scheinen, als käme die dunkle
Stunde immer näher. Ich stecke diese Papiere in das Geheimfach eines alten
Sekretärs; meine Kinder und Enkel werden sie nicht finden. Sie werden
gleich nach meine Tode, das weiß ich ganz genau, die paar alten Stücke,
die mir aus früherer Zeit geblieben sind, zum Trödler wandern lassen. So
ist es mir, als schickte ich dies in die Welt, zu einem Unbekannten, der
es finden wird, der es vielleicht versteht, besser als jene, die meine
Nächsten sind. Ich grüße diesen Fremden mit Rührung. Vor meinen alten
Augen wird es finster. Wird mich die Mutter Gottes, deren zerkratztes
Bildchen vor mir steht, liebevoll in ihre mütterlichen Arme nehmen? —
Werde ich in ein wilderes und dunkleres Reich der Schatten eingehen, nach
dem sich meine Seele oft gesehnt hat? Bald werde ich es wissen — sehr
bald.
|
|
|
|